Originally published in Kunstforum, Bd. 151, Juli-September 2000, pp. 125-129. Translation of "Kac's Time Capsule: Self-Capsule", first published in CIRCA, N. 89, Autumn 1999. Ireland, pp. 23-25.


Kacs Zeitkapsel: Selbsteinkapselung

Steve Tomasula

Teilinstallation, Teilgedächtnis, Teilspektakel, die Zeitkapsel wurde 1997 im Brasilianischen Fernsehen und über das Internet von dem lebenden Künstler Eduardo Kac und von den Toten realisiert, die vor 1939 in Polen lebten.

1. September 1939: Nazitruppen marschierten nach Polen ein. Der Krieg vernichtete Millionen ihrer Gruppenidentität wegen; Millionen anderer flohen, früher oder später, einzeln oder in großen anonymen Wellen, unter ihnen auch Eduardo Kacs Großmutter.

11. November 1997. São Paulo. An krankenhausweißen Wänden, die in das barocke Casa das Rosas Cultural Center eingezogen wurden, hängen Fotos von Kacs Großmutter: Posierend in einem Kajak, auf einem Motorrad sitzend, lächelnd, zwischen Familie und Freunden. Diese Sepia-farbenen Fotos sind ein paar von den wenigen Habseligkeiten, mit denen sie sich zu retten und die sie an Kac weiterzugeben vermochte. Ein Erbe. Er nennt sie Zeitkapseln der Erinnerungen wegen, die sie enthalten.

22.05 Uhr. Die Zuschauer zu Hause sehen Kac vor den Fotos an einem Experimentiertisch für Mediziner sitzen, sein nacktes Bein wartet auf ein Bioimplantat, das ihn dazu befähigen wird, bei einer amerikanischen Firma als der Besitzer seiner selbst registriert zu werden. Fernsehkameras drängen herein, ihre Lichter leuchten hell wie eine Halogenlampe über einem Operationstisch. Der Moment vergeht.

Zeit ist immer Einteilung. Weise ihr eine Nummer zu, 1939, 1997 und diese Einteilung bekommt Bedeutung, jeder Moment unterscheidet sich von denen jener Art, wie wir sie in unserer Gegenwart immer auf den Fotos der Toten betrachten, mit einem Wissen, das verschieden ist von dem, was jene jemals in ihrer Gegenwart wissen konnten. Dennoch existiert die Gegenwart auf den Fotos auch in unserer Gegenwart, und dient dazu, die beiden Zeiten miteinander zu verknüpfen. Wenn wir uns die Serpia-farbenen Fotos in einer Zeitkapsel betrachten, treten wir in eine Welt ein, die nicht länger existiert, seine Vorkriegstechnik ist fremd, der aufgenommene eng verbundene Familien- und Freundeskreis deutet eine soziale Struktur an, die anachronistisch ist. Die Menschen wurden zu formell posiert, die Großmutter trägt ihr bestes Kleid, sogar als sie rittlinks auf einem Motorrad sitzt, ein Bein entblößt. Dennoch, in dem Moment da wir auf dieses Bein sehen, können wir nicht anders, als eine Familienähnlichkeit zu dem Bein des Künstlers, das entblößt auf dem Tisch liegt, zu sehen.
Sieht man von dem Gesicht der Serpia-farbenen Frau zum lebenden Gesicht des Künstlers, sehen wir eine Kontinuität. Ein weiteres Erbe. Und wir realisieren, daß, wie Heraklit bemerkte, niemand zweimal in denselben Fluß steigen kann, und daß es ebenso unmöglich ist, völlig original zu sein. Diese Doppelnatur erlaubt es uns, die Zeitkapsel als „Zeit/Kapsel“, die Trennung betonend, oder als „Zeit-Kapsel“, die Einheit betonend zu lesen. Es als „Ich/Nicht-Ich“ zu lesen, oder als „Uns“; Es als „Ehemals/Jetzt“ oder als „Damals-im-Jetzt“ zu lesen. Der Moment vergeht.

22.13 Uhr. „Also ist die Frage des Gedächtnisses im digitalen Zeitalter zentral für diese Arbeit, stimmt’s?“ fragt Celso Zucatelli, der Reporter von Canal 21, ein Mikrophon Kacs Antwort entgegenhaltend. Die Fernsehübertragung von der Zeitkapsel ist in die Abendnachrichten eingebettet, so daß Luciana, die Studiokoordinatorin immer wieder zum aktuellen Stand in der Casa das Rosas zurückgibt. Während dieser einen Schaltung beschreibt Kac die Kapsel, die in seinen Körper implantiert werden soll, ein bio-komplatibler Transponder. Wenn dieser von einem Scanner aktiviert wird, sendet er ein schwaches Radiosignal aus, das eine nur einmal existierende Kennungsnummer transportiert, die von einem Scanner gelesen werden kann. Es ist die Nummer, die die Firma in den Staaten, wo Kacs zu Hause ist, als seine persönliche Identifizierungsnummer archivieren wird. Immer wenn die Fernsehstation ihn zeigt, wird das Wort VIVO (LEBEN) über die Szene gelegt.

Es ist unmöglich, aus unseren Körpern, Kulturen oder Persönlichkeiten Zeit zu
gewinnen, da sie uns schon innewohnt, bereits bevor die einzelne Zelle, als die wir beginnen, sich in zwei teilt. Im Alter von drei Tagen betätigen die Kinder schon die Muskeln im Rhythmus des Gesprochenen, das sie umgibt. Das Schlagen unserer Herzen, das Drehen der Erde und andere natürliche Rhythmen verschmelzen mit den Rhythmen unserer Gesellschaft zu einem Gefühl für Zeit, das wiederum unser Gefühl für uns selbst durchdringt. Tatsächlich lernen wir zuerst die „Zeitdauer“ durch die Verzögerung zwischen unserem ersten Schrei und der Befriedigung des Bedürfnisses kennen. Unendliches Verlangen begrenzt durch sterbliche Endlichkeit, wie Dante sagte. Oder Sex und Tod nach Freud. Mit unserem Altern wird die Zeit automatisch schneller. Aber sie ist auch künstlichen Faktoren unterworfen. Die Fortpflanzung, zum Beispiel, wird technischer Organisation unterworfen, aber auch der Tod, oder die dazwischenliegende Zeit. Es ist das Vehikel der Veränderung, an das sich die Zeitkapsel richtet. Was geschieht zum Beispiel mit unserem Gefühl für die Zeit, wenn die Technik unsere Lebensdauer auf 150 Jahre ausdehnen sollte? Oder 500 Jahre, wenn Wissenschaftler der Geron Corporation lernen, den genetischen Schalter zum Altern zu manipulieren, den sie kürzlich entdeckten? Was passiert mit unserem Gefühl für uns selbst, wenn die Langlebigkeit, wie so viele andere Dinge unseres Körpers, eine Sache der Wahl werden? Die Zeitkapsel dient als Achse zwischen dieser Zukunft und unserer Vergangenheit, indem sie uns einlädt eine Gegenwart zu reflektieren, in der Kommunikation global und unmittelbar ist, in der die Überwachung immer mehr um sich greift, immer kommerzieller und subtiler wird. Die Zeitkapsel veranlaßt uns, über eine Landschaft zu reflektieren, in der die Grenze zwischen Körper und Maschine fließend ist und ihre Interaktion selbstverständlicher ist als das Stellen von Uhren.

22.18 Uhr. „Wie geht‘s?“ fragt die Koordinatorin, als sie zurück zum Reporter zum Schauplatz schaltet. „Luciana, der Vorgang ist im Gange. Doktor Paulo Flavio Gouveia steht neben mir und ich werde ihn bitten, uns zu erzählen, was gerade geschieht.“ Die Stimme des Doktors erklärt: „Er bricht gerade den Widerstand der Haut.“ Eine Nahaufnahme zeigt eine große Subkutanspritze in das Fleisch stechen. Ein Stöhnen dringt aus dem mit Menschen gefüllten Raum. VIVO. Eine Ambulanz wartet draußen. Der Moment geht vorbei. „Jetzt läßt er die ganze Nadel subkutan unter die Haut fahren.“ Die Nadel bewegt sich auf und ab und bildet eine große Beule, bevor ein Finger den Spritzkolben zu der Stelle unter der Haut drückt und die Kapsel einsetzt. Als das geschieht, schwenkt die Kamera zurück und zeigt, daß es Kac ist, der in Schwarz gekleidet auf dem Untersuchungstisch die Injektion vornimmt, während der Doktor nur dabeisteht, ihm über die Schulter zusieht; die Grenze zwischen Medizin und Kunst ist so gründlich verwischt wie die Zeitkapsel die Linie zwischen Kunst und Nachrichten verwischt hat. Aber noch wichtiger ist - anders als in den Orwellschen Ideen der Überwachung und Kontrolle, daß die Dynamik so sehr in Freiwilligkeit eingemündet ist, daß es uns ein größeres öffentliches Selbstverständnis ganz nebenbei gestattet, unser Bild duzende Male am Tag den Überwachungskameras zu übergeben. „Er preßt die Stelle zu, um die Blutung zu vermeiden und jetzt wird er die Nadel herausziehen. Entschuldigen Sie, ich muß ihm jetzt helfen“, sagt der Arzt und begibt sich aus der Rolle des Kunstkommentators wieder in die eines Akteurs. Die Anwesenden stoßen Beifallsrufe aus. Aber warum? Aus Erleichterung, daß ein Moment der Spannung vorbei ist? Weil sie sich in diesem Werk wiedererkannten? Als der Arzt Kac hilft, Mull auf den Einstich zu legen, sagt der Reporter: „In ein paar Minuten wird der Chip in der Ferne über das Internet zu lesen sein.“

Es ist für uns schwer vorstellbar, wie irritierend ursprünglich das Sprechen am Telefon für die Menschen war, unfähig zu begreifen, an einem Ort zu sein, während ihre Stimme an einem anderen ist. Aber natürlich entsteht die Schwierigkeit für uns nur deshalb, weil Zeit und Wiederholung alles natürlich erscheinen lassen kann, sogar das Essen und Schlafen zu Zeiten, an denen wir nicht hungrig oder müde sind, aber an denen die Uhr sagt, daß wir sollen. Und so wie die Technik uns an die Trennung von Körper und Stimme gewöhnte, wie die Technik eine Selbstverständlichkeit daraus machte, die Zeit von der Erdumdrehung zu lösen, ist sie nun dabei, den Körper von unserem Selbst zu lösen. Da fällt einem natürlich das Klonen ein, aber das ist nur der dramatischste Meilenstein. Noch treffender gesagt, setzt sich unsere kulturelle Landschaft aus einer Myriade von Momenten zusammen, deren Summe das verändert, was wir sehen, wenn wir in den Spiegel gucken; die Gewöhnung erlaubt es den meisten Momenten jedoch, unbeachtet davonzukommen. Die 46 000 Herztransplantationen, die jedes Jahr vorgenommen werden, zum Beispiel; die Manipulation der Gene vor der Geburt; der Mann, der Kinder nach seinem Tod zeugt; oder das Transplantat, das Matthew Scott jüngst erhielt, eine Hand, die ihm von einem Leichnam vermacht wurde und einst einen anderen Namen signierte, diese Hand, die einst bei den Gebeten eines anderen zitterte, zittert jetzt bei neuen Gebeten, unterschreibt für einen anderen Körper. Die totale Veränderung von der Identität mit unserem Körper zum Besitzen unserer Körper wird ergänzt durch die Kultur der Überwachung und der Sensation. Zusammen höhlen sie den Unterschied zwischen uns und unseren Nachbarn aus; die Zeitkapsel macht auf die Rekonfigurierung des Selbst aufmerksam, indem sie daran teilnimmt. Kac bringt seinen Körper und sein freiwilliges Eindringen in seinen Körper auf den Bildschirm, wobei er die Massenmedien benutzt, um so viele Augenzeugen wie möglich zu versammeln. Dennoch, je mehr Zeugen sich einschalten, desto mehr verstreut sich die Zeitkapsel - der Schauplatz der Erinnerung und des Selbst.

22.27 Uhr. „ Wir schalten jetzt live zurück nach Casa das Rosas“, sagt die Koordinatorin, die offensichtlich die Show unter Kontrolle hat, obwohl sie selbst natürlich über ihr Ohrstück vom Sendeleiter kontrolliert wird, der für die Zuschauer unsichtbar ist. „Celso Zucatelli, war es bisher möglich, den Chip im Internet zu lesen? Das Hin und Her zwischen der Sendestation und dem Künstler hat die Absonderlichkeit eines Interviews, das mit einem Chirurg durchgeführt wird, der gleichzeitig der Patient im Zustand des Operiertwerdens ist. Der grelle Schein des Fernsehens und der Untersuchungslampe sind überwältigend. Sein Gesicht ist in Schweiß gebadet. Kac legt sein Bein unter ein Mull aus Linsen: Eine WebCam, ein Fernsehen und weitere Kameras, deren automatischer Film fortfährt zu senden. VIVO. Der Reporter, der durch das Ohrstück mit der Studiokoordinatorin verbunden ist, gibt ihre Frage weiter, und Kac erklärt den Vorgang, von dem jeder gerade Zeuge war: Ein Operator in Chicago aktivierte aus der Entfernung die Scanner, die die Nummer, die jetzt in Kacs Bein eingelagert ist, liest. Kacs Körper fungiert dabei als Knotenpunkt im Netz zwischen USA und Brasilien, seine Identifizierungsnummer reist durch das Internet und ermöglicht ihm, sich bei einer Firma registrieren zu lassen, die auf die Identifizierung verlorengegangener Tiere spezialisiert ist.

Wie wir später erfahren, werden ähnliche Dienste vermehrt von den Gefängnissen in Erwägung gezogen, sowie von Unternehmen, die planen, sie dann in Anspruch zu nehmen, wenn ihre Geschäftsführer entführt werden. Und wenn auch nur, um ihre Körper identifizieren zu können. Denn den Körper gibt es immer. Kacs Körper hat sich in eine Zeitkapsel verwandelt - eine Ikone unserer Zeit kraft einer bio-kompartiblen Kapsel, begraben in seinem Fleisch.

22.29 Uhr. „Luciana, damit ist die Lebenskomponente in Eduardo Kacs Werk &Mac226;Time Capsule‘ abgeschlossen.“

Der Moment geht vorüber.

Die Identifikationsnummer bleibt jedoch auf unbegrenzte Zeit in einem Speicher erhalten, wiederum eine Zeitkapsel, und dasselbe gilt für die global verstreute Website mit seiner Arbeit, auf welche unbegrenzt zugriffen werden kann unter http://www.ekac.org/timec.html.



Eduardo Kac ist ein Künstler und Autor, der die philosophischen und politischen Dimensionen von Kommunikationsprozessen untersucht. In seinen Arbeiten und Texten beschäftigt er sich mit linguistischen Systemen, dialogischem Austausch und spezienübergreifender Kommunikation. Kacs Werke, die oft virtuelle und physikalische Räume vernetzt, versucht Alternativen für ein Verstehen der Kommunikation aufzuzeigen. In den achtziger Jahren wurde Kac als Pionier der Holopoetry und Telepresence Art bekannt, seit den neunziger Jahren arbeitet er an neuen Katgorien der Biotelematik (Kunst, bei der ein biologischer Prozess intrinsisch mit einem computergesteuerten Telekommunikationssystem verbunden ist) und der Transgenen Kunst (eine neue Kunstform, die basierend auf Techniken aus dem Umfeld der Gentechnologie an dem Transfer synthetischer Gene auf einen Organismus arbeitet, um neue Lebewesen zu kreieren). Derzeit ist Kac Ph.D. Research Fellow am Centre for Advanced Inquiry in Interactive Arts an der Universität von Wales in Großbritanien und außerdem ist er Assitant Professor of Art and Technology am Art Institute von Chicago in den USA. Werke: http://www.ekac.org



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