Originally published in Poesie Und--Als Tradition, special issueof the journal Passauer Pegasus, Friedrich W. Block, editor, Vol.15, N. 29/30, 1997, pp. 106-119 (Kassel). Translation: Friedrich W. Block.


Holopoetry und darüber hinaus

Eduardo Kac

1. Zur Definition des Holopoems

Ein holographisches Gedicht oder Holopoem ist ein Gedicht, daßholographisch konzipiert, hergestellt und vorgeführt wird. Das bedeutetezunächst einmal, daß ein solches Gedicht nichtlinear in einemimmateriellen dreidimensionalen Raum organisiert ist und daß es sich,noch während der Leser oder Betrachter es beobachtet, verändertund neue Bedeutungen hervorruft. Der Betrachter verändert, indem erdas Gedicht im Raum liest ­ das heißt sich gegenüber demHologramm bewegt ­ ständig die Struktur des Textes. Ein Holopoemist ein raumzeitliches Ereignis: Es ruft Denkprozesse hervor und nichtderen Ergebnis.

Ein Holopoem ist kein Gedicht, das in Verszeilen komponiert und dannals Hologramm bearbeitet wird, noch ist es ein konkretes oder visuellesGedicht, das holographisch adaptiert wird. Die sequentielle Struktur einerVerszeile entspricht linearem Denken, während die simultane Struktureines konkreten oder visuellen Gedichts dem ideographischen Denken entspricht.Das in Zeilen gesetzte, auf Papier gedruckte Gedicht untermauert die Linearitätdes poetischen Diskurses, während das visuelle Gedicht die Wörterauf der Fläche freisetzt. Wie die Verspoesie hat auch die visuellePoesie eine lange Geschichte, die von Simias von Rhodos über die Barockdichterbis zu den Modernisten wie Marinetti, Kamenski, Tzara, Cummings und Apollinairereicht und weiter bis in die heutige Zeit der experimentellen Dichter ausden 60er und 70er Jahren.

Dieser Tradition folgend, gleichzeitig jedoch neue Wege beschreitend,nahm die Holopoetry 1983 dadurch ihren Anfang, daß sie die Wortevon der (Buch-) Seite befreite. Damals wie heute ist es wichtig, daßdas Holopoem in großem Umfang dupliziert werden kann und daßes ein leises Lesen erfordert. Im Unterschied zur visuellen Poesie versuchtes, die Diskontinuität des Denkens auszudrücken. Mit anderenWorten, die Wahrnehmung eines Holopoems vollzieht sich weder linear nochsimultan, sondern weitgehend in Fragmenten, die der Betrachter je nachseinen Entscheidungen bzw. seiner Position gegenüber dem Gedicht sehenkann. Die räumliche Wahrnehmung von Farben, Größen, Gradender Transparenz, Formveränderungen ist nicht von der syntaktischenund semantischen Wahrnehmung des Textes zu trennen. Die Instabilitätder Farbe hat eine poetische Funktion, und die visuelle Wandelbarkeit derBuchstaben läßt diese über den sprachlichen Bereich hinausreichen.

Wenn wir Sprachelemente mit den Grundsätzen der euklidischen Geometrievergleichen, wie Bense es in seiner Analyse visueller Texte getan hat [1], können wir Buchstaben als Punkte interpretieren, Wörter und Sätzeals Linien und visuelle Texte als Flächen. Buchstaben hättendann die Dimension 0, Sätze die Dimension 1 und visuelle Texte dieDimension 2. Das weiterführend, könnte man allzu schnell schließen,daß den Holopoemen, die den Text von der Buchseite befreien und inden Raum projiziert werden, die dritte Dimension zukommt.

Aber tatsächlich sind Holopoeme vierdimensional, da sie die dreiRaumdimensionen dynamisch mit der Dimension der Zeit verbinden. Das istnicht die subjektive Zeit des Lesers, die sich in bezug auf traditionelleTexte findet, sondern eine Wahrnehmungszeit, die im Holopoem selbst zumAusdruck kommt. Man muß sich allerdings nicht sehr weit umschauen,um zu bemerken, daß jedes Hologramm (nicht nur jedes Holopoem) andereDimensionen als �3� haben kann. Denn die fraktale Geometrie vermitteltuns, daß weitere Dimensionen zwischen denen liegen, die mit ganzenZahlen beziffert werden. So gibt es Software-Tools, durch die Bilder mitfraktalen Dimensionen erzeugt werden können. Fraktale lehren uns,den Sprung, die �Passage� von einer Dimension zur nächsten als einenneuen eigenen Wert zu begreifen. Auf diese Weise wird dann die euklidischeein Teil der fraktalen Geometrie, insofern z. B. die Dimension �2� zwischenden Dimensionen �1,9� und �2,1� liegt. Daher können Holofraktale andereDimensionen als �3� haben.

Mathematisch bedeutet ein Fraktal, daß es ungenau zwischen einerbestimmten Dimension und der nächst höheren oder tieferen gelegenenist. In der Kunst bedeutet ein Fraktal dann analog, zwischen der verbalenund der visuellen Dimension eines Zeichens zu liegen. Führt man BensesAnalogie einen Schritt weiter, so könnte man ­ sich in Raum undZeit bewegend ­ eine Sprache konzipieren, die aus dieser Passage vomverbalen Code (dem Wort) zum visuellen Code (dem Bild) und umgekehrt besteht.Die poetische Erfahrung wird dadurch bereichert, daß der Betrachteroder Leser ein Werk anschaut, das ständig zwischen Text und Bild oszilliert.Es ist von großer Wichtigkeit zu betonen, daß nicht alle Texte,die mit einem holographischen Film aufgenommen werden, auch Holopoeme sind.Es ist z. B. technisch möglich, ein symbolistisches Sonett als Hologrammaufzunehmen. Ein solches Sonett wird nicht einfach zum Holopoem, nur weiles auf einem holographischen Film wiedergegeben wird. Was ein Holopoemausmacht, besteht nicht darin, daß ein vorgegebener Text holographischaufgezeichnet wird; es kommt vielmehr auf die Erzeugung neuer syntaktischerOrdnungen, die Bewegung, Nicht-Linearität, Interaktivität, Flüssigkeit,Diskontinuität an, auf dynamische Verhältnisse, die nur im holographischenZeit-Raum möglich sind. Dazu muß auch noch gesagt werden, daßzukünftig selbst genuine Holopoeme nicht mehr auf holographischenFilm aufgenommen sein müssen, da dies digital möglich wird. EinesTages wird man Hologramme schreiben können. Wenn es soweit ist, werdensich dadurch neue Möglichkeiten ergeben und Holopoetry wird zu anderen,neueren Bereichen des poetischen Experiments führen.

2. Grundlagen der Holopoetik

Poesie ist eine Kunst, die Worte als Rohmaterial benutzt. Visuelle Poesiereichert das Wort mit Physikalität auf der Oberfläche des Papiersan und dehnt diese Physikalität auf andere Materialien aus wie imFall von Gedichten, die aus Holz, Plexiglas, Glas oder Metall hergestelltsind.

Holopoetry gehört in die Tradition der experimentellen Poesie,behandelt das Wort aber als eine immaterielle Form, das heißt alsein Zeichen, das sich verändern oder in Luft auflösen kann, dessenformale Steifheit gebrochen wird. Von der Druckseite und anderen fühlbarenMaterialien befreit, dringt das Wort in den Raum des Lesers ein und verlangtihm ein dynamisches Lesen ab. Der Leser muß sich um den Text herumbewegenund Bedeutungen und Verbindungen herausfinden, die die Worte untereinanderim leeren Raum bilden. Daher muß ein Holopoem in einer gebrochenenWeise gelesen werden, in einer unregelmäßigen und diskontinuierlichenBewegung, und es verändert sich, sobald es aus verschiedenen Perspektivenangeschaut wird.

Wenn man einen herkömmlichen Text liest oder die Umwelt betrachtet,werden durch jedes Auge leicht unterschiedliche Bilder wahrgenommen. Aberbeim Lesen eines Buches, einer Zeitung oder eines gedruckten Gedichtesspielt dieser Wahrnehmungsprozeß gewöhnlich keine Rolle, nochbeeinflußt er das Gelesene in irgendeiner grundlegenden Weise: Daslinke Auge sieht virtuell das gleiche wie das rechte Auge. Im Falle desHolopoems aber gestaltet sich das Lesen als Synthese von zwei verschiedenen,über die Augen aufgenommenen Inputs und ist daher um einiges komplexerund intensiver. Hier setzt das Konzept des �binokularen Lesens� an: Wirverändern ständig die Art und Weise, in der wir den Text mental�editieren�, abhängig von den verschiedenen Inputs, die sich währendder verschiedenen Fixierungen jedes Auges auf die Buchstaben im Raum ergeben.

Die linguistische Struktur, die Bedeutung hervorruft, ­ die Syntax­ verändert sich andauernd aufgrund der Wahrnehmungsaktivitätdes Lesers. Diese �perzeptive Syntax� des Holopoems ist so konzipiert,daß sie ein mobiles Bezeichnungssystem erzeugt und sich so ihre Ausdruckskraftauch auf den Faktor Zeit erstreckt, weil die Worte nicht auf einer Oberflächefixiert sind, sondern vielmehr im Raum fließen.

Holotexte erhalten die Möglichkeit zu bezeichnen nur aufgrund desaktiven, perzeptiven und kognitiven Engagements des Lesers oder Betrachters.Das heißt letztendlich, daß jeder Leser seinen eigenen Text�schreibt�, wenn er sich das Stück anschaut. Holopoeme halten nichtauf der Oberfläche still. Sobald der Leser nach Worten und ihren Verknüpfungenzu suchen beginnt, wandeln sich die Texte, bewegten sich im dreidimensionalenRaum, verändern sich in Farbe und Bedeutung, verbinden sich und verschwinden.Diese vom Betrachter bestimmte Choreographie ist ebenso ein Teil des Zeichenprozesseswie die sich transformierenden verbalen und visuellen Elemente selbst.

Sprache spielt eine fundamentale Rolle bei der Konstitution unsererErfahrungswelt. Die Frage nach der Sprachstruktur problematisiert auch,wie Realitäten konstruiert werden. Holopoeme definieren eine linguistischeErfahrung, die sich außerhalb der Syntax ereignet, und konzeptualisierenInstabilität als entscheidenden Agenten des Bezeichnens. Sie reißendie Grenze zwischen Wörtern und Bildern ein und erzeugen eine animierteSyntax, die Wörter über ihre Bedeutung in der Alltagskommunikationhinausführt. Holopoeme unterlaufen fixierte Zustände (d. h. Wörterwerden visuell aufgeladen, Bilder verbal angereichert) und erzeugen soeine dauerhafte Oszillation zwischen ihnen.

Die zeitliche und rhythmische Organisation von Holotexten spielt einewichtige Rolle bei der Erzeugung dieser Spannung zwischen visueller Spracheund verbalen Bildern. Die meisten meiner Holopoeme, die zwischen 1983 und1993 entstanden sind, behandeln Zeit als nichtlineare (d. h. diskontinuierliche)und reversible (d. h. in beide Richtungen fließende) Größe.Dies geschieht in der Weise, daß der Leser/Betrachter sich nach obenoder unten, vorn oder hinten, von links nach rechts in jeder Geschwindigkeitbewegen kann und dabei immer noch die Möglichkeit hat, Assoziationenzwischen den im ephemeren Wahrnehmungsfeld erscheinenden Worten unterzubringen.

Holopoetry fördert neue Beziehungen zwischen dem Erscheinen/Verschwindenvon Signifikanten, was für die spezifische Erfahrung beim Lesen einesholographischen Textes und für unsere Wahrnehmung seiner Organisationsfaktorensorgt. In diesem Sinne erhöht die visuelle Wahrnehmung der parametrischenVerhältnisse des Sprachlichen die Aufmerksamkeit für Bedeutungen.Während man sich lesend bewegt, verlagert man kontinuierlich den Fokusoder das Zentrum oder das Organisationsprinzip seiner Erfahrung, indemman durch verstreute Betrachtungszonen schaut. Der so erlebte Text widerstehtder Fixiertheit eines Printmediums, er eröffnet eine Verzweigung desholographischen Raumes.

Insofern holographische Texte in ihrer Art irreduzibel sind, könnenHolopoeme nicht vokalisiert oder drucktechnisch auf Papier reproduziertwerden. Da sich die Textwahrnehmung je nach Beobachterstandpunkt verändert,besitzen diese Texte nicht eine einzelne Struktur, die von einem in einanderes Medium transformiert werden könnte. Die kombinierte Verwendungvon Computern und Holographie spiegelt meinen Wunsch, experimentelle Textezu erstellen, die Sprache, genauer: Schriftsprache, über die Linearitätund Rigidität hinauszuführen, die sie in gedruckter Form charakterisiert.Niemals bearbeite ich also bereits bestehende Texte mit Holographie. Vielmehrentstehen Arbeiten, die eine eigentümliche holographische Syntax entwickeln.

3. Theoretische Fragen zu Holopoetry und Leseerfahrung

Visuelle Poesie, wie sie das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat, basierteauf der Druckseite als strukturierendem Träger, als Grundlage, aufder mit Tinte die verbale Komposition arrangiert wurde. Als physikalischeOberfläche, in die das Gedicht eingeschrieben wurde, kam dem Weißder Seite Bedeutung zu, und in den meisten Fällen stand es als Schweigenzu den verbalen Inschriften, die häufig als Lautrepräsentationenwiderhallten, im Kontrast. Erst einmal gedruckt, ist das Sprachzeichenauf der Oberfläche fixiert und seine Art zu bezeichnen an die Starreder Seite gebunden, ganz ähnlich wie eine auf Leinwand gezogene Linie.Der Vergleich mit der Malerei ist nicht zufällig, da sowohl modernePoesie als auch moderne Malerei gleichzeitig die Eigenheiten ihres Materialsuntersucht und so zu einer nicht-narrativen Poesie und zu einer nicht-figurativenKunst gefunden haben. So wie moderne Malerei sich von der Repräsentationzur Abstraktion bewegt hat, so hat sich moderne Poesie von der Linie ab-und dem Fragmentarischen zugewandt. Einige Dichter haben versucht, demalten �Figurengedicht� (ein Gedicht in Form eines Gegenstandes) eine neueRichtung zu geben, aber diese Tendenz stellt nur einen geringeren Teilder modernen und gegenwärtigen literarischen Experimente dar. Selbstin Apollinaires �uvre bezeichnen geformte Worte nicht geradewegs die Gegenständeder Formen, in die sie eingefügt worden sind, sondern erzeugen eineideogrammatische Spannung zwischen dem Symbolischen (Verbalen) und demIkonischen (Visuellen).

Zu den Sprachkonventionen des Westens gehört die Orientierung desLeseprozesses von links nach rechts, wobei es sich um eine arbiträreRepräsentation der linearen Reihe gesprochener Sprache handelt. Dasselbegilt für die zweidimensionale Seite, die diese Norm übernommenhat und von links nach rechts sowie von oben nach unten gelesen wird. Ingewissem Sinne entspricht das Lesen von oben nach unten auch einer gewöhnlichenWahrnehmung von Wirklichkeit, wie sie durch die Schwerkraft und ihr Einwirkenauf die Elemente bestimmt wird. Eine Folge von Seiten wird in der Regelebenfalls von links nach rechts gelesen und ähnelt darin wiederumder durch die Abfolge von Worten in einem Satz geformten Reihe. Unmöglichkann man die Beschränkungen vernachlässigen, denen eine poetischeSchöpfung aufgrund der physikalischen Eigenschaften des visuellenRaumes unterliegt, mit dem Dichter arbeiten. Die Herausforderung fürden Dichter besteht genau darin, Konventionen zu mißachten und neueCodes zu erfinden, die Sprache über das Redundante, das Geschwätzigeund das Gewöhnliche hinauszuführen. Moderne visuelle Dichterhaben die Wörter frei auf der Fläche verteilt oder selbstreferentielleStrukturen erzeugt, manchmal mit permutationellen Lesemöglichkeitenzwischen den Wörtern und der starren Fläche. Sie haben Wortfragmentegedruckt und deren visuellen Erscheinungswert erhöht, oder sie habendas Wort selbst zum Bild werden lassen, jedoch immer innerhalb des Rahmensder unveränderlichen Seite oder der berührbaren Grenzen festerund stabiler dreidimensionaler Materialien. Die Unveränderlichkeitund Stabilität zwei- und dreidimensionaler Oberflächen hat dascharakteristische Spektrum visueller Poesie bis heute bestimmt.

In einer Reaktion gegen fixierte Strukturen erzeugt holographische Poesieeinen Raum, in dem der sprachliche Ordnungsfaktor der Oberflächenzugunsten eines unregelmäßigen Zeichenflusses vernachlässigtwird, der durch den Leser niemals auf einmal erfaßt werden kann.Dieser turbulente Raum mit seinen Verzweigungen in eine Unzahl möglicherRhythmen erlaubt die Erzeugung dessen, was ich �textuelle Instabilität�nenne. Mit textueller Instabilität meine ich genau die Bedingung,nach der ein Text nicht eine einzelne visuelle Zeitstruktur vorgibt, inder er vom Betrachter gelesen wird, sondern verschiedene und transitorischeverbale Konstellationen hervorbringt, in Abhängigkeit von der wahrnehmendenErforschung durch den Rezipienten. Die Unterschiede zwischen Holopoetryund anderen Formen experimenteller Poesie sind durch eine Reihe von Merkmalengekennzeichnet, die gemeinsam darauf zielen, den Text zu destabilisieren,ihn in seine Spezifik als schriftlicher (Text) im Gegensatz zu graphischerRepräsentation (von Rede) hineinzustürzen, eine Syntax flüchtigerTransformationen und abrupter Sprünge zu erzeugen.

Derrida vertritt die Auffassung, daß kein Text vollständigdurch seinen Autor kontrolliert werden kann, daß diesem die inhärentenWidersprüche und Konnotationen des Textes unvermeidlich entgleiten[2].  Die genaue Plazierung (scheinbar fester) Wörter auf der(unbelebten) Oberfläche der Seite sorgt bei Autor und Leser fürdie Illusion, daß sie den Text kontrollieren, ihn meistern und kommandierenkönnten (und häufig auch für die Illusion einer äußerenWirklichkeit, auf die er sich bezieht). Holographische Dichtung versuchtdagegen, die Unmöglichkeit einer absoluten Textstruktur auszustellen.Sie unternimmt den Versuch, störanfällige verbale Muster zu erzeugen,die kleine Bedeutungsveränderungen, den wahrnehmenden Untersuchungendes Lesers entsprechend, wie unter einer Linse vergrößern. EinBeispiel: Man kann eine syntaktische Struktur erzeugen, in der man zwanzigoder mehr Wörter sehen könnte, die den gleichen Raum beanspruchen,ohne sich zu überschneiden. Ein Wort könnte sich auch in einanderes Wort, in eine andere Form verwandeln oder auch in einem Augenblickverschwinden. Buchstaben können in sich zusammenfallen und sich wiederaufbauen oder dahingehend verändern, daß sie in einem zeitlichrückläufigen Übergang andere Wörter formen. Diese wiealle anderen latenten Ausdrucksmöglichkeiten der Holopoetry sind inihrer Grammatik einzigartig, und sie sind nur möglich, weil der vonmir so entworfene Raum im Gegensatz zu den spürbaren Oberflächenvon Seiten und Objekten ein oszillierendes Feld diffraktionierten Lichtesdarstellt. Das Weiß der Fläche, das einmal Stille repräsentierte,wird entfernt und was bleibt, ist leerer Raum, ist die Abwesenheit einer(drucktechnischen) Grundlage, ohne besonderen symbolischen Wert. Die Lückenzwischen Wörtern und Buchstaben repräsentieren nicht definitivdie Abwesenheit von Klang, da die photonischen Inschriften nicht grundsätzlichfür seine Anwesenheit stehen. Wir befinden uns im Bereich eines raumzeitlichen,vierdimensionalen Schreibens, in dem räumliche Lücken auf nichtsanderes als die potentielle Anwesenheit von Graphemen hinweisen. Die Lückensind unsichtbar, anders als das Weiß auf der Buchseite. Sie stellen,Derridas Worte buchstäblich genommen, ein Wechselspiel zwischen Abwesenheitund Anwesenheit dar [3].3 

Unnötig zu betonen, daß z. B. das geschriebene Wort AIRPLANE,um sich auf das Leute und Gegenstände in der Luft transportierendeFahrzeug zu beziehen (es zu bedeuten), in ordentlichen textuellen und kulturellenKontexten stehen muß und daß seine Buchstaben von unseren Sinnenin einer ordentlichen Reihenfolge wahrgenommen müssen. Das Wort, dassich aus dieser Buchstabenreihe ergibt, muß visuell konstant bleiben.In der visuellen Poesie ist das verbale Zeichen einer Reihe von graphischenVerfahren unterzogen worden, die die Wortbedeutungen über ihre konventionellenAssoziationen hinaus erweitern sollten. Aber selbst wenn ein gedrucktesWort ausgeschnitten, fragmentiert und / oder in eine Collage integriertwird, kann es doch nicht der Unveränderbarkeit seiner letztendlichenFassung entrinnen.

Die Auflösung der Härte des poetischen Raumes, die durch diediskontinuierliche Syntax der Holopoetry möglich wird, betrifft auchdie bezeichnenden Einheiten des Gedichts, also Wörter und Buchstaben.Eines der Elemente der Holopoetry, das dennoch nicht notwendig in allenholographischen Texten erscheint, besteht in dem von mir so benannten �Fließzeichen�(fluid sign). Es handelt sich dabei im wesentlichen um ein sprachlichesZeichen, das seine ganze visuelle Konfiguration mit der Zeit verändertund sich daher der konstanten Bedeutung eines gedruckten Zeichens im obengenannten Sinne entzieht. Fließzeichen sind zeitreversibel, was heißt,daß die Transformationen von Pol zu Pol ganz nach Wunsch des Rezipientenfließen können und daß sie auch kleinere Kompositionseinheitenin viel größeren Texten werden können, in denen jedes Fließzeichenmit anderen seinesgleichen durch diskontinuierliche Syntax verbunden ist.

Fließzeichen bringen eine neue Art verbaler Einheiten hervor,in denen ein Zeichen nicht entweder das eine oder das andere Ding ist.Ein Fließzeichen ist wahrnehmungsmäßig relativ. Es kannfür zwei oder drei Betrachter, die zusammen in je unterschiedlichenPerspektiven lesen, unterschiedliche Dinge zur gleichen Zeit darstellen;für einen seine Position wechselnden Leser kann es sich selbst entgegenlaufenund sich ununterbrochen zwischen so vielen Polen verändern, wie sieder Text bereithält.

Fließzeichen können auch Metamorphosen zwischen einem Wortund einer abstrakten Form anstoßen, oder zwischen einem Wort undeiner Szene oder einem Gegenstand. In diesem Falle verändern beidePole wechselseitig ihre Bedeutungen. Es findet eine Transfiguration stattund erzeugt Zwischenbedeutungen, die dynamisch und in der Holopoetry ebensowichtig sind wie diejenigen Bedeutungen, die für Momente an den Polenentstehen. Die Bedeutung von Konfigurationen im Zwischenbereich kann nichtdurch eine sprachliche Beschreibung ersetzt werden, wie dies etwa fürdas Wort AIRPLANE in einem ordentlichen Kontext durch seine Definitionerfolgen kann (�ein Leute und Gegenstände in der Luft transportierendesFahrzeug�). Noch können sie gegen Synonyme oder spezielle Worte ausgetauschtwerden, so wie �grau� eine spezielle intermediäre Position oder Bedeutungzwischen �schwarz� und �weiß� bezeichnet.

In der Holopoetry wird mittels transitorischer Buchstabenclustern oderephemerer Formen, die zwischen Wort und Bild liegen, angestrebt, die poetischeImagination dynamisch zu dehnen und Bedeutungen, Ideen und Gefühleanzubieten, die mit gewöhnlichen Mitteln nicht zu vermitteln sind.Holopoetry richtet eine Syntax unterbrochener Ereignisse ein, eine animierteSprache, die ihrer Interpretation ausweicht. Holopoetry ist nicht möglichohne das sich ausbreitende Licht als Medium für interaktives Lesen/Schreiben.In der Holopoetry sind Texte Zeichennetzwerke, die durch �motion scripting�und diskontinuierliche Worterscheinungen animiert werden.

4. Holopoeme schreiben

Von 1983 bis 1987 strebte ich zu den Grenzen der optischen Holographieund schrieb Gedichte, die in das Feld der Poesie zum ersten Mal Kompositionselementeeinführten wie Pseudoskopie, Diskontinuität, Auflösung inLicht, dreidimensionale Juxtapositionen, räumliche Verdichtung, integraleAnimation, Farbinstabilität und digitale Synthese unmöglicherRäume. Was ich in dieser Phase an Arbeiten erstellt habe, wurde inEinzel- und Gruppenausstellungen gezeigt. Als Konsequenz meiner Suche nacheinem turbulenten Raum, der anfällig für Wandlungen ist, begannich 1987 mit einer neuen Textart zu experimentieren, die ich digitale Holopoetrynenne. Ich schreibe digitale Holopoeme in einem Prozeß stereoskopischerSynthese ­ im Gegensatz zur Methode optischer Aufzeichnung, die ichfür die meisten meiner anderen Holopoeme benutzt habe. Dieses Verfahrenerlaubt mir, jedes Element mit größerer Präzision zu handhaben[4].4 

Die von mir entwickelten Schreibtechniken ermöglichen mir, Textezu schreiben, in denen der Leser Worte und Buchstaben aus ihrer Positionin einer Raumzone treibt, nur indem er sie anschaut. Die gebrochene Choreographiemeiner jüngsten Texte erhält ein Bewegungsmoment zusätzlichzu den �Quantensprüngen� und optischen Fusionen, die zuvor in zweioder mehr Zonen auftraten. Jetzt kann ich Stücke schreiben, in denender Leser animierte Fragmentierungen und momentane Metamorphosen in einereinzigen Zone wahrnehmen kann. Ich kann diese und andere Möglichkeitenauch in hybride Gedichte einbauen, die das Optische und das Digitale integrieren.Mit digitalen Holopoemen dehne ich die Löslichkeit der Zeichen aufdie verbalen Partikel der Schriftsprache, die Buchstaben, selbst aus, erweiteredie Skala von Rhythmen und Signifikationen des Textes.

Mein Schreibprozeß kann wie folgt umrissen werden: 1) Generierungund Manipulation der Textelemente mittels digitaler Tools im simuliertenRaum der Computer-�Welt�. Dazu benutze ich raster- oder vektororientierteSoftware (dieser Schritt könnte auch als Modellphase bezeichnet werden);2) Studium und vorgängige Dekomposition der vielfältigen visuellenKonfigurationen, die der Text eventuell haben wird; 3) Wiedergabe der Buchstabenund Wörter, d. h. Übertragung von Schattierungen und Texturenauf die Oberfläche der Modelle (Texturmuster können je nach Wunschentworfen werden, Schatten können vermieden werden, wo sie im Umgangmit fühlbaren Modellen notwendig auftreten würden); Interpolation,d. h. Erzeugung der animierten Sequenzen, die dann als einzelne Datei imComputerspeicher abgelegt werden (dieser Schritt kann auch als �motionscripting� bezeichnet werden); 5) Dateiexport in eine Animationssoftwareund Editierung der Sequenzen (inklusive der Nachbearbeitung der Textelemente);6) rahmengenaue sequentielle Aufzeichnung der einzelnen Szenen auf Film,die diskreten Textbewegungen entsprechen (auch mit einem LCD-Bildschirmmöglich); 7) sequentielle Aufzeichnung der einzelnen Szenen auf einLaserhologramm und 8) abschließende holographische Synthese, diedadurch erreicht wird, daß die im Laserhologramm gespeicherte Informationauf ein zweites Hologramm übertragen wird, und nun in weißemLicht betrachtet werden kann.

In diesem Prozeß wird Film (aufgrund seiner hohen Auflösung)nur als temporäres Speichermedium genutzt. Wesentliches Merkmal desFilmverfahrens im Kino ist die Projektion von einem und nur einem Rahmenzu einer Zeit. Alle Rahmen werden auf dieselbe Stelle projiziert, einsnach dem anderen in einer raschen Abfolge. Das Publikum nimmt dann immergenau denselben Rahmen mit beiden Augen wahr. Im dreidimensionalen Filmaber werden zwei Rahmen gleichzeitig auf dieselbe Stelle projiziert. BeideRahmen korrespondieren genau demselben Augenblick, jedoch von verschiedenenBlickwinkeln aus. Das Publikum nimmt einen Rahmen mit dem einen Auge, denanderen mit dem anderen Auge wahr und bildet dadurch ein stereoskopischesBild. In der Holopoetry besetzten alle Rahmen gleichzeitig denselben Raum,alle zur gleichen Zeit. Sie werden nicht gleichzeitig projiziert, sondernschweben im selben Raum. Sie sind nur wahrnehmbar, wenn der Betrachtersich im Bezug auf das Hologramm bewegt. Rahmen können entsprechen:1. demselben eingefrorenen Moment oder dreidimensionalen Raum, wie er vonverschieden Blickwinkeln aus gesehen wird, 2. verschiedenen Momenten einesVorgangs, 3. völlig verschiedenen Bildern mit je unterschiedlichenraumzeitlichen Referenzen. All diese Möglichkeiten sorgen fürneue Strategien des Lesens und Schreibens.

Ein Schriftsteller, der holographisch arbeitet, muß die Vorstellungvom Leser als idealen Dekodierer seines Textes aufgeben. Er muß miteinem Leser rechnen, der sehr persönliche Entscheidungen in bezugauf Richtung, Geschwindigkeit, Distanz, Anordnung und Blickwinkel trifft,je nach Leseerfahrung. Bei der Textherstellung muß der Autor berücksichtigen,daß diese Entscheidungen in ihrer Subjektivität vielfältigeund verschiedene Realisierungsmöglichkeiten des Textes erzeugen und­ wichtiger noch ­ daß all diese Ereignisse gleichwertigeBegegnungen mit dem Text sind.

5. Holopoetry und die Zukunft experimenteller Poetik

Holopoetry definiert einen neuen Bereich poetischer Forschung, in demder Text im formbaren Medium des Lichts geschrieben wird, das Wort vonOberflächenzwängen befreit ist und Textualität aus Signifikantenin Bewegung besteht. In einem Holopoem kann das verbale Phänomen nichtvon der raumzeitlichen Umgebung des optischen und synthetischen Hologrammsgetrennt werden.

Wenn man sich mit der Entwicklung einer neuen Poesie im digitalen Zeitalterbeschäftigt, kommt es darauf an, visuelle Poesie in einem anderenals dem Printmedium zu schreiben, in einem unverbrauchten Medium, dessenKonventionen erst noch erfunden werden müssen. Für mich ist dieHolographie ein solches Medium. Allerdings ist mir wichtig, daß derbloße Gebrauch neuer Medien noch keinen Qualitätsstandart, nochkeinen authentischen Beitrag zum Repertoire experimenteller Schreibweisenbedeutet. Wenn jemand z. B. Holographie nur dazu benutzt, ein Gedicht zureproduzieren, das vollständig in einer anderen Art und Weise (Verse,Graphik etc.) realisiert wurde, entsteht nicht das, was ich ein Holopoemnenne.

Wir sind in westlichen Gesellschaften alle an elektronische Texte desFernsehens gewöhnt, wie sie auf dem Bildschirm recht kunstvolle Pirouettendrehen: Ein Golfer schlägt einen Ball, und über den Bildschirmwerden Buchstaben gestreut, die ein Turnier ankündigen. Ein elektrischerRasierer folgt dem Weg eines Textes über dieses Produkt, �rasiert�dabei diesen Text. Logos fliegen onscreen, um die Visual Identity großerFirmen zu vermarkten etc. Der dynamische Sprachgebrauch, an den wir imFernsehen gewöhnt sind, erzeugt zumeist Redundanz, Gewöhnlichkeit,Banalität.

Die neue Dichtergeneration gehört in die Medienkultur. Sie atmetdie Luft von Fernsehen, Video, Videophon, Computer, virtueller Realität,CD, CD-ROM, Telepresence, Holographie und Internet. In einer literarischenKultur, die nach wie vor vom Printmediun bestimmt wird, wird der Autorexperimenteller Poesie, so er ausschließlich in elektronischen oderphotonischen Medien gelesen werden kann, nur mit vielen Schwierigkeitenein Publikum erreichen (wie klein es auch immer sei). Ungeachtet dieserProbleme oder gerade ihretwegen, ist es an dieser Generation, dynamischeelektronische und photonische Texte zu erstellen, die die konzeptuelleKraft und die geheimnisvolle Schönheit der Sprache zurückgewinnen.

Aus dem Englischen von Friedrich W. Block

Anmerkungen:

1- Max Bense: Textos Visuais, in: Pequena Estética, SãoPaulo 1975, S. 176f.

2- Bei Jacques Derrida, Grammatologie, Frankfurt 1983, S. 273, heißtes: �der Schriftsteller schreibt in einer Sprache und in einer Logik, derenSystem, Gesetze und Eigenleben von seinem eigenen Diskurs definitionsgemäßnicht absolut beherrscht werden können. Er bedient sich dieses Systems,indem er sich in gewisser Weise und bis zu einem gewissen Grad von ihmbeherrschen läßt. Die Lektüre hingegen muß ein bestimmtes,vom Schriftsteller selbst unbemerktes Verhältnis zwischen dem, waser an verwendeten Sprachschemata beherrscht, und dem, was er nicht beherrscht,im Auge behalten.�

3 - Jacques Derrida: Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskursder Wissenschaften vom Menschen, in: P. Engelmann (Hrsg.): Postmoderneund Dekonstruktion, Texte französischer Philosophen der Gegenwart,Stuttgart 1990, S. 114-139 (hier S. 137): �Das Spiel ist immerfort einSpiel von Abwesenheit und Präsenz, doch will man es radikal denken,so muß es der Alternative von Abwesenheit und Präsenz vorausgehendgedacht werden.�

4 - Vgl. V. Whitman: Holopoetry: The New Frontier of Language ­An Interview with Eduardo Kac, in: Tung H. Jeong (Hrsg.): Display Holography(Fifth International Symposion), Proc. SPIE 2333, 1995, S. 138-145. Zurweiteren Information vgl. Eduardo Kac: Holopoetry and Fractal Holopoetry,in: Leonardo, 22, No. 3/4, 1989, S. 397-402; ders.: Recent Experimentsin Holopoetry and Computer Holopoetry, in: Tung H. Jeong (Hrsg.): DisplayHolography (Fourth International Symposion), Proc. SPIE 1600, 1991, S.229-236; ders.: Holopoetry, Hypertext, Hyperpoetry, in: Tung H. Jeong (Hrsg.):Holographic Imaging and Materials, Proc. SPIE 2043, 1993, S. 72-81.


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