Originally published in Baumunk, B.-M. and Joerges, J. (eds). Dschungel.Sammeln, Ordnen, Bewahren: von der Vielfalt des Lebens zur Kultur der Natur(Berlin: Henschel, Berliner Festspiele, 2000), pp. 47-53.


"Lebendige Bilder" schaffen Virtuelle Realität, ArtificialLife und Transgenic Art

Oliver Grau

Der avancierten Verbindung von Kunst und Wissenschaft - ihrer intimenAnnäherung ­ verdankten ihre jeweiligen Zeitgenossen seit jeherglaubwürdig illusionäre Repräsentationen des Lebens. Gegenwärtigerleben wir den Aufstieg des Bildes zum computergenerierten virtuellenRaumbild, das sich scheinbar autonom wandeln und eine "lebensechte",visuell-sensorische Sphäre zu formulieren vermag. In der langen Evolutionder Illusionsbildmedien präsentiert sich damit zwar eine technologischneue Spielart, die jedoch gleichwohl den Wunsch nach spürbarer Beherrschungder Betrachter durch die Bilder erneuert. Innerhalb der Traditionsbewegungdes Illusionismus verstehen sich die virtuellen Bildräume als Fluchtpunkt,als Extremum, an dem sich die Relation Mensch - Bild in besonderer Klarheitoffenbart.

Historische Vorläufer der Virtuellen Realität

Die historischen Versuche immersiver Bildräume verliefen überdie breite, primär europäische Tradition der bildlichen Illusionsräume,die zumeist in Landvillen und Stadthäusern des Adels zu finden waren.Doch gleichermaßen im öffentlichen Raum gewannen die Illusionsräumean Bedeutung: So die gigantischen Deckengemälde der Barockkirchen,die Panoramen des 19. Jahrhunderts, die Cineoramen, Sensoramen, Geruchs-,3-D-Kinos, Rund- und IMAX-Kinos, bishin zu virtuellen High-End-Installationender Computerkunst. Illusionsräume dieser Art verbinden sich in ihrerMethode, das Sichtfeld des Betrachters möglichst vollkommen von derWelt abzuschneiden und sie oder ihn in einen zeit- und ortshomogenen Bildraumzu versetzen, der von Realismus, Kontingenz und medialer Konvergenz bestimmtwar. Artifizielle bildliche Sphären entstanden, die durch die immersiveBilderfahrung zwischen den Polen gelöster Kontemplation und suggestiverBannung changierten.1 Ein frühes mediales Großprojekt, das immersivePräsenz und den Eindruck von Leben erzeugen wollte, markiert die Bewegungder Sacri Monti, dioramatische Bildräume, wie an einer Perlenschnuraufgereihte Kapellen waren das, die zunächst entlang der Alpen errichtetund später in die gesamte katholische Welt exportiert wurden. Der1518 in Varallo entstandene, durch ein veristisches Ambiente ergänzteIllusionsraum Der große Kalvarienberg (Abb.1) von Gaudenzio Ferrari­ seinerzeit bekannt wie Leonardo oder Michelangelo - versetzte denBetrachter scheinbar an den historischen Ort und fixierte unwiderstehlichdie inneren Bilder, die memoriale Exposition der Gläubigen. Durchdie Struktur von illusionärem Fresko und plastischem Bildinterieur,das unmittelbar an den Betrachter heranreicht, wird jener ins Gescheheninvolviert, gewissermaßen Teil der Inszenierung. So wurden die Pilger,die an manchen Tagen zu Tausenden die Kapellen besuchten, von den Mönchenermutigt, sich zwischen Fresko und das plastische Kreuzigungs-Simulacrumzu begeben, mithin physisch wie emotional am Bild zu partizipieren.2 Proportionen,Farben, insbesondere jedoch das dramatische und emotionsgeladene, teilweiseekstatische Geschehen, appellieren an den Betrachter. Nachts wurden dieKapellen bei Fackelillumination besichtigt, was den Illusionseindruck desLebendigen zusätzlich steigerte. Dieser Illusionismus täuschtRealpräsenz mit allen der Zeit verfügbaren medialen Mitteln vor,so das sich die durch die Bildräume geleitenden Mönche tatsächlichimmer wieder genötigt sahen, die Pilger daran zu erinnern, daßes sich hier nicht um das reale Jerusalem handele.3 Mit der kunsttechnischenErfindung des Panoramas, Rundbildern von oftmals mehreren tausend Quadratmetern,stand schließlich ab den 1790er Jahren ein Bildmedium zu Verfügung,dass viele nicht nur als geeignetes Surrogat für das reale Reisenempfunden, sondern diesem gegenüber gar vorzogen. In der nüchternenÜberlegung eines Alexander von Humboldt könnten die neuen großdimensionalen360°-Bildmedien "[...] die Wanderung durch verschiedenartige Klimatefast ersetzen. Die Rundgemälde leisten mehr als die Bühnentechnik,weil der Beschauer, wie in einen magischen Kreis gebannt und aller störendenRealität entzogen, sich von der fremden Natur selbst umgeben wähnt."4Das seit 1883 von Millionen Besuchern erlebte Sedanpanorama in Berlin repräsentierteschließlich die Summe des illusionstechnischen Könnens und wahrnehmungsphysiologischenWissens seiner Zeit, wie es von Hermann von Helmholtz formuliert wordenwar.5 Immer wieder suchten visionäre Künstler, etwa Alberti,Piero, Leonardo, Barker, Daguerre, Prampolini, Eisenstein, Youngblood oderjüngst Computerkünstler wie Krueger, Davies oder Sommerer, ihreBildvisionen auch mit innovativen Bildtechniken zu verbinden, die sie selbstweiterentwickelten. Musste sich in der frühen Neuzeit die Malereiim Wettstreit mit einer anderen Kunstform, der Architektur, als wissenschaftlicheMethode definieren, so brachen die sich einst berührenden Säulen,Wissenschaft, Religion und Kunst spätestens im Industriezeitalterauseinander und bildeten fortan im allgemeinen Bewusstsein weit voneinanderGetrenntes, wenn nicht Antagonismen. In der Romantik wurde Kunst fast zueiner Antiwissenschaft, gegen den scheinbar kalt-rationalistischen Primatdes ubiquitär-technischen der Massengesellschaften, der neben allenzivilisatorischen Erleichterungen im 20 Jahrhundert immer wieder Apokalypsen,wie die von Verdun, Hiroshima, Bhopal oder Tschernobyl aufbrechen ließ.Die Versuche, Kunst und Wissenschaft anzunähern, rissen jedoch nieab, und so interpretierte etwa der sowjetische Regisseur Sergej M. Eisensteindie Geschichte der Kunst als evolutionären Prozess, untrennbar mitder Entwicklung der Technik verbunden. Aus der Perspektive der 40er Jahrebewertete er den Film als das höchste Stadium der Kunstentwicklung.Seine Abhandlung Über den Raumfilm (1947) betont die lange Kontinuitätder dialektischen Verbindung von Kunst, Wissenschaft und Technik, derenfinale Synthese aller Kunstgattungen, als Erfüllung eines jahrhundertealtenBildwillens, in der Utopie des unmittelbar bevorstehenden Raumfilms mitseinen scheinbar lebendigen Bildern münde. Auch das vielleicht jüngsteIllusionsbildmedium, der an der Universität von Chicago entstandeneCAVE, ein zimmergroßer Würfel aus Projektionswänden, der3-D-Objekte in bestechender Plastizität zu zeigen vermag, resultiertaus einer Kooperation zwischen einem Künstler, Dan Sandin, und derComputerwissenschaftlerin Carolina Cruz-Neira.

Virtuelle Kunst: Synthese von Kunst und Wissenschaft

Sind Kunst und Wissenschaft parallele Universen, die miteinander kommunizieren,sich immer wieder überschneiden, durchlässig sind und phasenweisekonvergieren? Natürlich existieren nicht nur die zwei Welten von C.P.Snow, sondern vielleicht unendlich viele. Die Wissenschaft "der Natur",die der Tendenz folgt, die Dinge zu distanzieren, zu "objektivieren",steht einem Konstrukt aus Subjekten, Gefühlen und Träumen entgegen.Bei genauer Betrachtung erscheint Wissenschaft jedoch gerade dort anziehend,wo Subjekte und Artefakte amalgamieren, fern einer sterilen Scheidung inkalte Wissenschaft und autonome Kunst. Jede neue Kunst schafft ihre eigenenRegeln und Methoden. Fixiert Wissenschaft sich tradiertermaßen aufeine oder eine Kombination von Methoden - ein Denken, daß Paul Feyerabendbereits 1978 mit seinem berühmten Plädoyer anything goes fürpluralistische Methodenvielfalt in der Forschung konterte - so erfährtKunst ihre Kraft weitgehend aus der Toleranz für eine Vielzahl vonMethoden. Wissenschaft, so Feyerabend weiter, sei in ihren Mechanismensozial konstruiert und damit dem sozialen Konstrukt Kunst vergleichbar.Und gerade diese, ihre spielerische Dimension führt die Kunst im experimentellenUmgang mit den neuen Medien zu oftmals verblüffenden Ergebnissen undEinsichten. Heute lotet die Medienkunst als fein gesponnenes Gewebe zwischenWissenschaft und Kunst das ästhetische Potenzial der avanciertestenmedientechnologischen Entwicklungen aus. So entstand die Virtuelle Kunstzunächst an einer begrenzten Anzahl von weltweit verteilten Hightech-Forschungszentren,die über die komplexen und kostenaufwendigen technologischen Voraussetzungenverfügen. Dreißig Jahre nachdem Snow die Formel von den zweiKulturen prägte, geraten vermeintlich scharf konturierte Grenzen zwischenTechnologie und Kunst erneut in Auflösung. Die virtuelle Bildkulturarbeitet an innovativen Interfacegestaltungen, Interaktionsmethoden oderevolutionär-genetischen Bildprozessen. Renommierte Künstler,wie Charlotte Davies, Monika Fleischmann, Wolfgang Strauss, Maurice Benayoun,Christa Sommerer und Laurent Mignonneau oder Jeffrey Shaw leisten an ihrenForschungseinrichtungen Grundlagenforschung, verbinden Kunst und Naturwissenschafterneut im Dienst der heute komplexesten Methoden der Bilderzeugung. Sieverwenden die Werkzeuge auf experimentelle, spielerische Weise, machendie Technik auf jene Weise erfahrbar und könnten künftig nochstärker in eine Schlüsselposition in der Gestaltung neuer Kommunikationssystemegelangen. Bei aller Determination durch die Technik erwachsen dem Künstler,mit den neuen Parametern Interfacedesign, Interaktion (Arrangement derFreiheitsgrade), Raumorganisation, Narrationsstrategie und, im Falle evolutionär-genetischerBildprozesse, der Bestimmung eines Selektionsrahmens, bisher kaum absehbareGestaltungsmittel. Künstler formulieren mit ihren Werken kritischePositionen zur medialen Kultur, hinterfragen und offenbaren die neuen Strukturen.Zudem jedoch, und das ist weitgehend neu, verlangt die künstlerischeAnforderung, die Vision der "research-artists", oftmals die Weiterentwickelungder bestehenden Visualisierungs- und Kommunikationsechnik. Innovative Medienkunstwird auf diese Weise zum Bindeglied zwischen Kunst, Technologie und ökonomischerEntwicklung. Sommerer und Mignonneau am ATR Lab bei Kyoto etwa haben nichtnur eine Anzahl von technischen Patenten angemeldet und publizieren inden entsprechenden naturwissenschaftlichen Zeitschriften, es ist auch nachweisbar,daß manch einer der am Lab forschenden Informatiker sich an der Bildästhetikder Künstler orientiert. Historisch meldet sich hiermit ein Künstlertypuszurück, der gleichermaßen Wissenschaftler ist. Sobald die Datenübertragungdes Internet entsprechende Leistung erreicht, werden Bildräume dieserArt von einer visuellen Qualität online zugänglich sein, dieheute als aufwendige Stand-Alone-Installationen auf Festivals oder in Medienmuseengezeigt werden und erklärtermaßen ein Zukunftsmodell fürdas Internet formulieren. So entstanden überwiegend Installationen,die mit neuen Interfaces die Betrachter nicht nur intensiver als zuvorins Bild versetzten, sondern durch umfassende Interaktionen diese auchweitaus stärker in die Werkentstehung involvierten. Zur Zeit beziehtsich der Illusionismus in der Virtuellen Realität weniger auf hochillusionistischeRepräsentationen, sondern eher auf die Logik und Funktionsfähigkeitin einem lebensähnlichen System. Man könnte behaupten, die VirtuelleRealität nähme eine Transsubstansziation des Lebens vor, dasnatürlich im Virtuellen keines ist.

A-Life

Die szenischen Bildwelten des Computers erfahren jüngst mit demEinsatz genetischer Algorithmen den Anschein der Belebung.6 Plastisch wirkendeSoftwareagenten vererben nach dem Muster evolutionärer Fortpflanzungihre Phänomenologie, d.h. die programmatischen Grundlagen des Bildeswerden unvorhersehbar, vergänglich und unwiederholbar. Sie werdendem Zufall entsprechend, neu kombiniert, begrenzt einzig durch einen vomKünstler festgelegten Selektionsrahmen. Seitdem die ForschungsrichtungKünstliche Intelligenz in Misskredit geraten ist, entwickelte sich,ebenfalls mit umfassenden Verheißungen ausgestattet, seit Ende der80er Jahre ein neuer Forschungszweig mit Namen Künstliches Leben.Die A-Life-Idee, die Christopher Langton zum ersten Mal 1987 auf einemWorkshop am Los Alamos National Lab formulierte, fragt nach den Gesetzmäßigkeitendes Lebens und seinen charakteristischen Erscheinungen. Kern des A-Life-Ansatzesist das Konzept der Selbstorganisation, vom Einfachen zum Komplexen, wasin Computersimulationen nachgestellt wird. Artifizielle Lebensformen, Agenten,können spontan und autonom durch evolutionäre Zufallsprozesseentstehen und Neues hervorbringen, schließlich, so die Theorie, würdensich Software-Agenten spontan und autonom in Interaktion mit ihrer Umweltevolutionär wandeln, um schließlich unter bestimmten definitorischenVorgaben, gar Intelligenz hervorzubringen - mit Hilfe des Konzeptes derZellularautomaten, deren Idee auf John von Neumann und John Conways Gameof Life zurückgehen. Erster formulierte ein Konzept von Maschinen,die sich autonom organisieren und reproduzieren können.7 Wo evolutionäreProzesse, Anpassungen an Vorgaben, Optimierungen oder, wenn das Wort auchim strengen Sinne nicht korrekt ist, Lernvorgänge einsetzen, tretenkomplexe Vorgänge ein, die sich auf lange Sicht der Kontrolle entziehen.Ein Ansatz, der sich primär für die Prozesse, Gesetzmäßigkeitenund charakteristischen Erscheinungen des Lebens interessiert, der Lebenzunächst als Wandel komplexer Information begreift und sich wenigerum seine Materialität bekümmert.8 So unterhält die A-Life-Forschungnicht nur enge intellektuelle Wechselbeziehungen mit Theoretischer Biologie,Morphologie, Kognitiver Psychologie, Evolutionstheorie und Informatik,sondern stärkt insbesondere funktionalistische Ansätze.9 Letztlichwurzeln derartige Szenarien in uralten Konzepten vom künstlichen Leben,die sich vom Pygmalionmythos über die Geschichte der Automaten undRoboterfantasien bis zur jüngsten utopischen Übersteigerung erstrecken,Leben, Bewusstsein und eine Gemeinschaftsintelligenz im Netz zu generieren:Einige Vertreter der Cyberkultur, so originell sie auf den ersten Blickerscheinen, fügen sich historisch betrachtet in gängige Schemata.Obgleich heute noch niemand sagen kann, wie Bewusstsein funktioniert, konstatiertPierre Lévy: "als künftige Quelle menschlichen Bewußtseinseine transzendente "kollektive Intelligenz", eine "Über-Sprache",die globaler, direkter Kommunikation entspringt."10 VRML-Papst MarkPesce11 und Bruce Damer12 ziehen mit religiöser Rhetorik überdie Tagungen. Gepredigt wird das Phantasma der Vereinigung in einer globalenNetzgemeinde, der Cybergnosis, einer Erlösung im Technischen, entleibt,als postbiologisch-ewig-lebende Datenstreuung, wie dies am radikalstenHans Moravec formulierte.13 Problematisch ist, dass führende Vertreterdes harten A-Life-Ansatzes wie Langton und Ray, Computerökosphärenmit selbstreplizierenden digitalen Organismen, bereits im tradierten Sinnedes Wortes für fähig halten Leben generieren zu können,bzw. dies in Zukunft wird tun zu können.14 Ungeachtet aller religiös-naturwissenschaftlichenMystik scheint zumindest sicher, dass die virtuelle Bildkultur ihren intensivstenSchub in Richtung Illusion nicht durch minutiöse Detailberechnungerfahren wird, sondern durch kombinatorische Prozesse, die Zufälligeserbringen. Der Anspruch der A-Life-Computerbilder, nicht nur dem Lebenähnlich, sondern dieses selbst zu sein (Abb. Tom Ray: Tierra, oderJ. Prophet: Technosphere), kann medientheoretisch nur als naiv gewertetwerden: Zwar wird die Bildlichkeit des A-Life als Bild bezeichnet, istjedoch wie alle digitalen Bilder zugleich Berechnung. Was Funktion undProgrammatik der Lebensprozesse angeht, ist sie Abstraktion, bezüglichder biomorphen Struktur hingegen Konkretion. Die wissenschaftliche Legitimationihrer Bildlichkeit rührt folglich nicht nur aus der Lebensähnlichkeitder Morphologie, sondern insbesondere aus der algorithmischen Analogieder "Lebensprinzipien", ihrer Evolution. Es handelt sich vielmehrum Visualisierungen wissenschaftlicher Theorien, und es bleiben nun einmalBilder, nicht mehr, aber eben auch nicht weniger. So kommt es, dass Betrachterder A-Life-Bilder, ebenso wie die Pilger des 16. Jahrhunderts auf dem SacroMonte oder Panoramabesucher um 1800, die in den Bildraum springen wollten,um abgebildete Feuer zu löschen oder die entsetzten Zuschauer derersten Lumière-Filme, die vor dem einlaufenden Zug reißausnahmen, meinen, das "Leben selbst" vor Augen zu haben. Mißverständnisse"dieser Natur" wiederholen sich in der Geschichte der Illusionsmedienwieder und wieder.

In einer Fülle von Untersuchungen ist die Frage nach Automatenund Robotern umfassend dargestellt worden.15 Neu ist die Kombination vonAutomatenkonzept und Gentechnik: Scheinbar lebendige Robotermenschen könnenauf der Basis der Manipulation oder computergestützten evolutionärerTransformation der Gencodes hervorgebracht werden. Diese transgene Roboterisierung,die biotechnische Hybridwesen schafft, wird erst in ersten Umrissen sichtbar,sie tritt zunächst im Bild auf, wandert jedoch bald vielleicht schonin die materielle Sphäre. Immer weniger erscheint der Körperals Ort des Natürlichen, Authentischen, Eigentlichen, zu dem ihn bürgerlichesDenken im 18. Jh. stilisierte; vielmehr wird er als Konstrukt sichtbar,als Projektionsfläche historisch wechselnder Einschreibungen, diezwischen den Polen Natur und Artefakt changieren. Die biologisch anatomischeBasis des Körpers seine materielle Seite wird im Zuge dieser programmatischenEntgrenzung zunehmend destabilisiert. Die Haut - die KulturwissenschaftlerinClaudia Benthien hat kürzlich eine bahnbrechende Studie zum historischenStatuswandel dieser Grenzmetapher vorgelegt - definiert nicht mehr denAbschluss des Körpers zum Raum. Der Körper wird aus seiner passivenFeststellung entlassen; wird als potenziell gentechnisch und ingenieurtechnischtransformierbar begriffen und in einer imaginären Grenzüberschreitungzwischen Fakt und Fiktion zunehmend umgestaltet.

Transgene Kunst

Unmittelbar, so die Rhetorik, stehen wir vor der Erweiterung der Sphäredes bildlich-digitalen Entwurfs auf reale Körper. Noch kaum absehbareKonsequenzen werden implantierte digitale Prothesen und insbesondere dieGentechnik zeitigen. Nicht nur Forscher fahnden heute weltweit nach demErbgut ausgestorbener Arten, um in einer zweiten Schöpfung aus winzigenPartikeln alter DNS Beutelwölfe, Mammute oder ausgestorbene Riesendodosetwa zu klonen, auch Künstler bewegen sich auf diesem Terrain. EduardoKac, brasilianischer Medienkünstler und international renommierterTheoretiker, skizzierte auf dem diesjährigen Kongress der Inter-Societyfor the Electronic Arts in Sao Paulo mit seinem Konzept der TransgenicArt einen Denk- und Projektionsraum, der die absehbare biotechnische Entwicklungreflektiert. Transgenic Art behauptet nicht, wie harte "A-Lifer",das Leben von Bildern, Transgenic Art will durch Transplantation bzw. Implantationvon DNA genetische Werke erschaffen, das Leben selbst transformieren. Soplant Kac gemeinsam mit Gentechnikern pflanzliche, tierische und künstlicheGene zu übertragen und zu vermischen, um neue, einmalige Lebewesen,Originale zu erschaffen. Am Beispiel des seit 15000 Jahren wohl am intensivstendomestizierten Säugetiers schlechthin, des Hundes, entwickelt Kaceinen nahezu dadaistischen Beitrag zur Biodiversität: Seinem WerkGFP K-9 ist das Green Fluorescent Protein (GFP) einer nordpazifischen Quallenartimplantiert worden.16 Bestrahlung mit ultraviolettem Licht wird GFP K-9in die Lage versetzen, leuchtend grünes Licht zu emittieren. Freilichsind Wissenschaft und Kunst erst nach der Kartierung des Hundegenoms -was noch Jahrzehnte dauern kann - in der Lage, tatsächlich ein Artefaktdieser Erscheinung zu kreieren. Andererseits existieren bereits Ziegenmit Spinnengenen oder Schweine, die menschliche Proteine erzeugen. Kacpropagiert den transgenen Organismus als Original, Materie, automatischeSkulptur gewordenes Elaborat jener sich ehedem verflüchtigenden digitalenKünstlervisionen, als Alternative gegen das Artensterben. "Mitder zukünftigen Schaffung und Zeugung biolumineszenter Säugetiereund anderer Lebewesen", so Kac weiter, "wird die dialogischeKommunikation zwischen den Arten unser gegenwärtiges Verständnisvon interaktiver Kunst tiefgreifend verändern."17 Folgte manKacs positivistischer Forscherrhetorik, erschiene sein Konzept als falschverstandener Avantgardismus, ein nur scheinbar kritischer Impuls, verhaftetim Theoretischen - l'art pour l'art. Offensichtlich sind es ja zur Zeitnicht die Künstler, sondern die Genetiker, die Hunde grün färben,und folglich existiert eine Genetic oder Transgenic art noch nicht. Nichtsdestotrotzvisualisiert Kac mit künstlerisch-konzeptionellen und zugleich wissenschaftlichenInformationen denjenigen Disput, der unter dem Stichwort Sloterdijk-Debatteseinen Weg ins öffentliche Bewusstsein fand - bemerkenswerterweiseohne, daß es bislang zu Berührungen zwischen diesen parallelverlaufenden Diskursen gekommen wäre. Kacs Ziel, die bislang nahezuausschließlich im rational-wissenschaftlichen Feld geführteDebatte um die Transgenese, die ein integraler Teil unseres künftigenLebens sein wird, doch unter erheblichen Finanzinteressen steht, in eineethische, soziale und historische zu überführen, kann den provokantenSloterdijk-Thesen an die Seite gestellt werden. Ein Mensch zu sein, wirddann vielleicht einmal heissen, dass das menschliche Genom nicht Beschränkung,sondern Ausgangspunkt ist. Ist A-Life zunächst Herrschaft überBilder und damit vielleicht über das Bewusstsein, bezeichnet Transgenic-Artden Willen zur puren Konsequenz, zur Herrschaft über das Leben. BeideWissenschafts- und Ideenmodelle konfrontieren uns erneut mit den Mechanismen,der Evolution, wie sie Darwin formulierte und den Ideologien die aus ihrgemacht wurden. Darwin erkannte die natürliche Zuchtwahl als die bestimmendeKraft der Evolution. Diese verdankt sich jedoch keineswegs nur dem Kampf.Brutfürsorge, Kooperation oder Symbiose mit anderen Tieren und Pflanzenund gute Tarnung sind ebenso wichtig. Häufig ist für das Überlebennicht die schiere Kraft ausschlaggebend sondern die Fähigkeit zurSymbiose, Kooperation, Selbstbeschränkung. Der ubiquitäre, schonungsloseWettbewerb aller gegen alle ­ der in der wirtschaftsliberalen Theorie,dem Sozialdarwinismus bis zur Eugenik und der Rassenhygienelehre des NSKonjunktur erlangte - war gerade nicht der Schluß Darwins. In derIdee der Eugenik liegt, wie der Biologe Ernst Ulrich von Weizäckerfeststellte, bereits ein Keim des Verbrecherischen. Denn, wer entscheidetüber gut und schlecht? Welche Gene sind erwünscht? Was darf derMensch? Wie schützen wir die Vielfalt vor der Tyrannei des Modegeschmacks,der Krankenversicherungen, des Geldes oder der Ideologien? Und wärevor diesem Hintergrund nicht Bruno Latours Vorschlag überlegenswert,Rechte, wie sie für Menschen gelten auch auf Nichtmenschen ­ inklusiveTechnik ­ auszudehnen?18


1 Einen Überblick gebe ich in: Into the Belly of the Image: HistoricalAspects of Virtual Reality, in: LEONARDO, Bd. 32, Nr. 5, 1999, S. 365-371.

2 ANONIMO; Tractato de li capituli de passione: Questi sono li misteriche sono sopra el Monte di Varale, etc. Milano 29. Marzo 1514, (BiblothecaColombina di Siviglia).

3 Alessandro Nova: "Popular" Art in Renaissance Italy: EarlyResponse to the Holy Mountain at Varallo, in: Claire Farago (Hg.): Refaimingthe Renaissance: Visual Culture in Europe and Latin America 1450-1650,New Heaven: Yale University Press 1995, S. 113-126, hier, S. 119.

4 Alexander von Humboldt: Kosmos: Entwurf einer physischen Weltbeschreibung,hrsg. von Hanno Beck: Bd. 7, Teilbd. 2, Darmstadt 1993, S. 79f.

5 Hermann von Helmholtz: Optisches über Malerei, in: Vorträgeund Reden, Braunschweig 1903 (1871), S. 96.

6 Eberhard Schöneburg: Genetische Algorithmen und Evolutionsstrategien,Bonn 1994, sowie , Christa Sommerer und Laurent Mignonneau: Interactingwith Artificial Life: A-Volve, in: Complexity, Bd. 2, Nr. 6, 1997, S. 13-21.

7 Unabhängig von Neumann reklamiert Konrad Zuse die Idee des Zellautomatenfür sich, dessen Konzept er in Der rechnende Raum ausführt.

8 Vgl. Christopher Langton (Hg.): Artificial Life an Overview, Cambridge/Mass.1995; ebenf.: Ian Stewart: Life's other Secret: The new mathematics ofthe living world, New York 1998.

9 Vgl. Margaret A. Boden (Hg.): The Philosophy of Artificial Life, Oxford1996.

10 Pierre Lévy, L'intelligence collective. Pour une anthropologiedu cyberspace (Paris 1995).

11 Marc Pesce, www.hyperreal.org/~mpesce/caiia.html "The deterritorializationof the self is the essential feature that marks human entry into cyberspace.In the universe of infinite connection and possibility the only possibleontology is magical; [...] The techniques of magical will, quintessentiallylinguistic, require a conscious mastery of the relationship between wordand world. At the end of history comes the Word."

12 Bruce Damer: www.damer.com/

13 Hans Moravec, "Körper, Roboter, Geist", in: KunstforumInternational, 133, (1996) 98-112.

14 Christopher Langton: Artificial Life, in: Margret Boden (Hg.): ThePhilosophy of Artificial Life, Oxford 1996, S. 39-94; sowie: Thomas Ray:An Approach to the Synthesis of Life, in: ebd., S. 111-145.

15 Jüngst: Horst Bredekamp: Überlegungen zur Unausweichlichkeitder Automaten, in: Phantasmen der Moderne, Ausstellungskat., Düsseldorf1999, S. 94-105.

16 Hierzu die umfangreichen Literaturhinweise bei: Eduardo Kac: TransgenicArt, in: LifeScience, Ars Electronica 1999, Wien 1999, S. 289-295, u. 296-303.

17 Ebd., S. 300.

18 Bruno Latour: On Technical Mediation: Philosophy, Sociology, Genealogy,in: Common Knowledge, 3, Nr. 2, S. 29-64.


Oliver Grau is a researcher in the project Art history and Media theorie(s)of Virtual Reality at the Humboldt-University in Berlin supported by theDeutsche Forschungsgemeinschaft.


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