Gegenworte. Zeitschrift für den Disput über Wissen (herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften), 9. Heft, Frühjahr 2002, Seite 24-29.

Auf dem Weg zur Bildwissenschaft

Oliver Grau

Gegenwärtig befinden wir uns an einer bemerkenswerten Wegmarke der
Kunstgeschichte - ein Zeitraum, in dem es manchmal kaum mehr möglich
erscheint, zwischen technowissenschaftlicher Forschung einerseits und
Kunst andererseits zu unterscheiden. So entwickelte Forscher S. ein
Arrangement, das entfernten Personen durch elektrische Stimulation Kontrolle
über den Körper des Künstlers einräumt. Forscher E. K. hingegen kreierte ein
System, das es Teilnehmern an unterschiedlichen geografischen Orten
erlaubt, gemeinsam den Körper eines Roboters zu beherrschen. Forscher R.
G. entwickelte ein mit Biosensoren versehenes Klo, das eine prompte
Urinanalyse auf emotionale Erregungsniveaus und Drogenkonsum hin zulässt.
Was gehört nun wozu? Mittlerweile avanciert die Art-&-Science-Frage zum
eigentlichen kulturellen Ereignis, welches langsam, aber sicher das Snowsche
Modell der Two Cultures in die dunklen Wasser überholter Theorien
hinabgleiten lässt und es heute bereits unmöglich macht, die Zukunft der Kunst
ohne Beachtung von Technik und Wissenschaft verstehen zu wollen.
Insbesondere in ihrer Verbindung mit der Kunst offenbart Wissenschaft immer
wieder bemerkenswerte Erkenntnisse, welche wiederum Wissenschaft als
kulturellen Akt bloßlegen.

Wir leben heute - im Zeitalter der expandierenden audiovisuellen Medien - in
einem Malstrom der Bilder. So viel Bild wie heutzutage war wohl nie. Waren
Bilder früher Ausnahmeerscheinungen, dem Ritual, dem Kultus, später der
hohen Kunst, schließlich dem Museum vorbehalten, sind wir im Zeitalter von
Kino, Fernsehen und Internet mittlerweile auf Schritt und Tritt von Bildern
umgeben. Zudem hat sich die Art, wie Bilder entstehen, nie zuvor so
grundlegend gewandelt. Wurden Kino, Video und Fotografie kürzlich noch als
Hightech-Kunst eingeordnet, so hat man diese Medien nicht mehr im Sinn,
wenn man heute von Hightech-Kunst spricht. Wir erleben den Aufstieg des
Bildes zum computergenerierten virtuellen Raumbild, das sich teilweise
autonom zu wandeln und eine scheinbar lebensechte, umfassend
visuell-sensorische Sphäre zu formulieren vermag. Zeitgleich erleben wir eine
Explosion des Wissens von ungekannter Geschwindigkeit. Es existieren
Prognosen, nach denen der Zuwachs komplexen Wissens in diesem
Jahrhundert, das eben abgelaufene um das einhundertfache übertreffen wird
- und die Veränderungen waren im letzten ja nicht eben gering. In diesem
Kontext wird Visualisierung zwingend zu einer Strategie, die Welt fassbar zu
machen. Bezeichnenderweise sind es erneut Künstler, die neuartige
Visualisierungen für komplexe natur- und gesellschaftswissenschaftliche
Prozesse unternehmen, wie der Versuch von Young Hyun zeigt, der mithilfe
eines dreidimensionalen hyperbolischen Graphen die Komplexität des Internets
fassbar machen will. Es ist ein Modell wissenschaftlicher Visualisierung, das
in seiner Stilisierung als gigantischer leuchtender Augapfel vor dem Dunkel der
nicht durch Informationstechnik berührten Zonen deutlich symbolischen Gehalt
transportiert.

Versucht sich Wissenschaft langläufig als empirisch, objektiv, stets in der
Sprache der Mathematik auf Neue getestet und wiederholbar zu zeichnen, so
wurde diese Selbstrepräsentation durch die Arbeiten von Paul Feyerabend,
Donna Haraway oder Bruno Latour und nicht zuletzt durch Galisons Analyse
des bedeutsamen Einflusses der Repräsentation auf Konzept und Prozess
von Forschung nachhaltig erschüttert. Künstler sind es, die Bildstrategien und
-techniken entwickeln, welche die Größen von Repräsentation und Simulation
innerhalb eines sich permanent neu arrangierenden Koordinatenfeldes der
Splitter einer tendenziell universell-vernetzten Bildmaschine kreativ erweitern.
Aber auch das, was wir als Kunst bezeichnen, wurde im letzten Jahrhundert
starkem Wandel unterzogen, der ebenso Abstraktion, Performance und
Interaktion einschloss, wie Conceptual, Earth oder Public Art. Obgleich Kunst-
und Mediengeschichte seit jeher in nahezu untrennbarer Wechselwirkung
stehen und noch jede mediale Entwicklung stets von Seiten der Kunst
kommentiert, aufgegriffen oder gar getragen wurde, ist die Betrachtung der
Kunstgeschichte als Medien- und Wissenschaftsgeschichte, als Historie jenes
wechselseitigen Verhältnisses, bislang unterentwickelt. Suchen die Bilder der
Kunst gemeinhin nach Intuition, Emotion und Evokation, bemühen sie sich
anders gesagt um eine visuelle, ästhetische und originelle Kommunikation, so
schöpft Wissenschaft nach Wissen, Erklärung, Normen, Standards, Systemen
und bedient sich erst in letzter Zeit verstärkt der visuellen Kommunikation.
Beide Systeme jedoch messen Größen wie Kreativität, präziser Beobachtung,
Abstraktion und Universalität immer schon einen besonderen Wert zu.

Heute lotet die Medienkunst als fein gesponnenes Gewebe zwischen
Wissenschaft und Kunst das ästhetische Potenzial der interaktiv-prozessualen
Bildwelten aus. Renommierte Vertreter der virtuellen Bildkultur leisten
Grundlagenforschung, verbinden Kunst und Naturwissenschaft erneut im
Dienst der heute komplexesten Techniken der Bilderzeugung. Es handelt sich
um international renommierte Künstler, die in der Regel als Wissenschaftler an
Hightech-Forschungslabs arbeiten und u. a. neue Interface-Entwicklungen,
Interaktionsformen und Code-Innovationen entwickeln. Medienkünstler sind in
so unterschiedlichen Bereichen tätig wie Robotik, Telepresence Art,
Biokybernetische Kunst, Space Art, Experimenten im Nanobereich,
A-Life-Kunst, Genkartierung, Fraktalkunst, Kreation von virtuellen Agenten,
Datamining, Mixed Realities, datenbankgestützter Kunst u.v.a.m. Diese
Spezialdisziplinen lassen sich abstrakt skizziert in die Gebiete, Telematische
Kunst, Genetische und Immersiv-Interaktive Kunst ordnen, die sich alle
gemeinsam unter dem Oberbegriff Virtuelle Kunst einfinden. Und so lauten
zentrale Herausforderungen für Künstler heute, Reflexion zum
Interfacedesign, Eröffnung komplexer Handlungs- und damit
Erfahrungsoptionen für die Nutzer und die experimentelle Erforschung der
immer neuen Grenzen des menschlichen Umgangs mit den sich permanent
wandelnden Maschinen. Interaktive Medien wandeln unsere Vorstellung vom
Bild zu einem multisensorischen interaktiven Erfahrungsraum im zeitlichen
Ablauf. Objekte und Bildräume werden zur Option, die zuvor nicht dargestellt
werden konnten. Heute können die Raumzeitparameter beliebig gewandelt und
das Virtuelle kann als Modell- und Erfahrungsraum genutzt werden.
Insbesondere der globale Bildzugriff und Austausch über die Netzwerke
eröffnet, verbunden mit der Technik der Telepräsenz, neue
Wahrnehmungsoptionen. Überdies werden große Teile der Bildressourcen
unserer natürlichen Umwelt mit den artifiziellen Bildern zu Mixed Realities
verschmelzen, oftmals ohne zwischen Simulacrum und Original unterscheiden
zu können.

Dieser dynamische Wandel begünstigt die seit nunmehr einer Dekade in
Kunstgeschichte, Philosophie und Kulturwissenschaften entbrannte
Diskussion um den Status des Bildes. Die neuen Medien und insbesondere die
von ihnen getragene Kunst lassen die Frage nach dem Bild nicht nur mit neuer
Intensität, sondern auch mit neuer Qualität stellen. Folglich überschreitet das
Projekt Bildwissenschaft gezielt die verabredeten Grenzen spezifisch
"künstlerischer Bilder". Es kann sich sowohl auf Aby Warburgs frühen Ansatz
einer kulturgeschichtlich orientierten Bildwissenschaft ebenso wie auf Erwin
Panofskys "Neue Ikonologie" berufen, als auch auf die Untersuchungen zum
Sehen von Norman Bryson und Jonathan Crary. Seit den 1960er Jahren hat
sich die Diskussion um den Begriff der bildhaften Repräsentation massiv
ausgeweitet. Markante Ausgangspunkte waren die bahnbrechenden Arbeiten
von Nelson Goodman, Roland Barthes und Ernst Gombrich. Seither haben die
ehemals fast ausschließlich auf kunsthistorischem Terrain angesiedelten
Untersuchungen und Analysen zum Bildbegriff auch in Psychologie,
Physiologie, Ästhetik, Philosophie, Kulturwissenschaften, den Visual Studies
und zuletzt der Computer Science und den Naturwissenschaften nahezu
exponentiell zugenommen. Besonders in der Kunstgeschichte, der ältesten
Bild- und Medienwissenschaft, avancierte die Frage nach dem Bild zu einer
neuen Blüte, die in bemerkenswerter Parallele zur rasanten Entwicklung auf
dem Feld der neuen Medien und ihren Bildwelten steht. Sie hat, im Sinne des
Benjaminschen Wortes, gegenwärtig "den Wind der Weltgeschichte in den
Segeln". Die sich formende Bildwissenschaft findet sich zudem in guter
Nachbarschaft zu einer Wissenschaftsgeschichte künstlerischer
Visualisierung beziehungsweise einer Kunst- und Bildgeschichte der
Wissenschaft, wie sie von Bruno Latour und Martin Kemp vorgeschlagen
wird, sowie der eben in den USA gegründeten primär aus
naturwissenschaftlicher Sicht argumentierenden "Science of the Image".

Insbesondere in ihrer Verbindung mit neuen Kommunikationsmedien, wie sie
das Internet ermöglicht, entstand noch vor dem Boom des WWW seit den
frühen Neunzigerjahren, gewissermaßen in der Nachfolge der telematischen
Kunst, die Telepresence Art. Der Ansatz des an der University of Southern
California lehrenden Ken Goldberg bezieht sich weniger auf immersive
Environments als auf den telekommunikativen Aspekt: die Aktion mittels
Operatoren und Robotern in die Ferne. Im Jahr 1995 installierte Goldberg
erstmals das viel diskutierte Konzept des Telegarden, der seit 1996 im Linzer
Ars Electronica Center ausgestellt ist. Dieser Miniaturgarten wird durch einen
mit einer Webkamera versehenen Roboterarm von Nutzern des WWW
kultiviert. Eingeloggt, vielleicht tausende von Kilometern entfernt, vermögen die
Nutzer durch ein visuelles Feetback den 40.000 $ teuren Arm zu manövrieren
und durch schlichte Klicks auf einen Websitebutton die in einem kleinen Trog
untergebrachten Pflanzen punktgenau zu bewässern. Der jeweils
einhundertste Benutzer erhält die Option, mithilfe des Roboterarms neue
Pflanzensamen in die Erde einzusetzen. Auf diese Weise bringen die auf dem
Globus verstreuten Benutzer des WWW einer symbolischen Weltlandschaft
Gedeihen oder Verderb. Bereits im ersten Jahr erhielten 9000 anonyme
Besucher ein Password und partizipierten an diesem kollektiv erzeugten
Kunstwerk, das zwischen digitaler Kunst, skulpturalen Elementen und einer
Hybridform von Gartenkunst changiert - ein unbetretbarer künstlich
beleuchteter Garten, in dem ein steriler Roboterarm stille Befehle vollzieht - kein
Ort für Menschen und damit eine allenfalls ironische Verbindung von Kunst
und Leben. Goldberg konzipierte eine interkontinentale Kulturschöpfung, die
jedoch als Metapher für die immer wichtiger werdende so genannte virtuelle
Unternehmung gelten kann, also für jene verteilte Projektarbeit über die Netze,
deren ökonomische Bedeutung immer zentraler wird. Geistige oder materielle
Produkte können in dieser ökonomischen Organisationsform rund um die Uhr
zum Mindesttarif für globale oder lokale Marktsegmente in wechselnden
Projektgruppen erzeugt werden.

Jüngst simulieren Künstler-Wissenschaftler wie Thomas Ray, Christa
Sommerer oder Karl Sims Prozesse des Lebens: Evolution, Aufzucht und
Selektion wurden zu Methoden der Kunst. Die szenischen Bildwelten des
Computers erfahren durch den Einsatz genetischer Algorithmen den Schein
der Belebung. Die zunächst bio- und informationswissenschaftliche Debatte
um Genetik und A-Life zum Erreichen von künstlichem Leben erhielt aus der
Kunst Modelle, Visionen und Bilder, die zum Referenzboden und Katalysator
der kontroversen Debatte erwuchsen. Mit fast einhundert internationalen
Ausstellungen haben Christa Sommerer und Laurent Mignonneau seit 1992
sich weltweit Erfolg erarbeitet. Wie kaum jemand repräsentiert dieses
Künstlerpaar eine Kunst, die technologisch avanciert den Umbruch der
Gegenwartskunst reflektiert, wie er durch die Revolution der Bildmedien und
der Biowissenschaften hervorgerufen wird. Ihre 1994 am National Institute for
Supercomputing in Illinois und am ATR Lab in Kyoto entwickelte
Echtzeit-Installation A-Volve projiziert eine Evolution aus dem Rechner in einen
leuchtenden Pool. Plastisch wirkende Softwareagenten vererben nach dem
Muster evolutionärer Fortpflanzung ihre Phänomenologie, die nach den
Prinzipien Crossover und Mutation neu kombiniert wird, einzig begrenzt durch
einen vom Künstler festgelegten Selektionsrahmen. Ein aus neunzig
Parametern bestehender Genkode lässt jede dieser wimmelnden Bildamöben
anders aussehen. Bildtheoretisch bezeichnet die Evolution schlicht einen
bahnbrechenden Vorgang: Der gezielte Einsatz des Zufallsprinzips ermöglicht
unvorhersagbare, nicht reproduzierbare, einmalige, vergängliche Bilder. Je
komplexer die Motorik und Phänomenologie, desto lebendiger erscheinen die
Bilder. Im Spiel können die User, die Schöpfer der bunt schillernden
Softwareagenten, interaktiv in den Wandel der Generationen eingreifen. Als
Ikone der Genetischen Kunst gehört A-Volve zu den wichtigsten Werken des
letzten Jahrhunderts.

Varianz und Erweiterung erfuhr das Konzept spielerischer Kombinatorik durch
die fast zeitgleich entstandene Installation SonoMorphis des am ZKM
beschäftigten Computergrafikers Berndt Lintermann. Auch im Bildraum von
SonoMorphis lassen sich immer neue, auf genetischen Algorithmen basierende
biomorphe Körper "schöpfen". Hier jedoch werden die artifiziellen Wesen in
permanente Rotation versetzt und durch Sound unterstützt, der gleichfalls auf
Zufallsprozessen beruht. Die Besucher können mittels einer Interfacebox aus
sechs Mutanten ein Wesen selektieren, das wiederum zum Ursprung neuer
Generationen wird. Üblicherweise werden die Bilder auf eine 5m x 3m große
Wand in einem abgedunkelten Raum projiziert, sodass sich bereits aus dem
Format eine Suggestion aus Bild, Ton und Interaktion ableitet. Die ästhetische
Immersion wurde noch dadurch gesteigert, das SonoMorphis in einem CAVE
erlebt werden konnte. Lintermann verband hier innovativ und medial
konsequent die Evolution, die scheinbare Belebung der Bilder, mit der Strategie
der Immersion, wie sie heute nur ein CAVE leisten kann. SonoMorphis ist
zudem über das Netz erreichbar. Die Physiognomie der Biokörper wird
hierdurch schrittweise in Richtung der Webauswahl gewandelt, umgekehrt
beeinflusst der Eingriff im Realraum den virtuellen Eindruck im Web, sodass
Rezeption und Interaktion von verschiedenen Orten aus spielerisch ineinander
greifen und eine neuartige Werk- und Wahrnehmungsstruktur hervorrufen.
Durch Rekombination der Physiognomien führt die Verknüpfung von Visualität
und Akustik zur Entstehung automatischer Kompositionen - Sounds, die
gleichfalls Funktionen der komplex-plastischen Konturen der Bildkörper sind,
Variationen im Timbre, dynamisch bewegte Positionen. Mit Bild und dem Ton,
der gleichfalls ausgewählte Abschnitte des Genoms repräsentiert, stehen
separate Medien nebeneinander, die sich synästhetisch durchdringen.
Lintermann begreift die Installation flexibel, einem Instrument vergleichbar, das
sich aus visuellen und akustischen Komponenten addiert. 10 hoch 80
verschiedene Formen sind möglich, womit, wie der zurückhaltende Künstler
darlegt, eine Analogie zur Anzahl der Atome des Weltalls gezogen sei. Wie
immer dies zu bewerten sein mag, die mögliche Varianz von SonoMorphis ist
unvorstellbar komplex, nicht im Ansatz erfahrbar und ruft erneut die Kategorie
des Erhabenen auf - diesmal in der Digitalen Kunst.

Seit Mai 1996 testet der an der Konzeption von A-Volve beteiligte Biologe
Thomas Ray das Bottom-up-Prinzip der Evolution, welchem die
A-Life-Forschung die Fähigkeit beimisst, Komplexität bis zum Erreichen eines
künstlichen Bewusstseins zu steigern, mithilfe einer der digitalen Evolution
angemesseneren Umgebung - dem Internet. Netlife ist mithin der Versuch, die
biologische Evolution in einer digitalen Ökosphäre mit Organismen
nachzuahmen, die Computerviren gleichen. Netlife, so die Hoffnung, solle ein
digitales Äquivalent zur kambrischen Explosion erreichen, in der massive
Komplexitätssprünge spontan zu verzeichnen waren. Diesen Big Bang der
computergestützten Evolution erhofft Ray durch komplexe
Informationsprozesse zu erreichen, die auf die Hardwarestrukturen tausender
parallel arbeitender Rechner zurückgreifen - autonom und koevolutionär.
Wunschergebnis wäre Software unübersehbarer Komplexität, welche die
Kapazität der vernetzten Hardwaregrundlagen vollständig auszuschöpfen
vermag.

Bislang kaum zur Kenntnis genommen wurde die Tatsache, dass sich
Evolutionsmodelle der Genetischen Kunst und des A-Life in ein durchaus
gängiges Ideenmodell der Kunst- und Bildgeschichte einfügen, das sich
zumindest bis in die Renaissance zurückverfolgen lässt. So schrieb Giorgio
Vasari ab 1550 im Vorwort seiner Gründungsschrift der Kunstgeschichte:
"(...) denn wenn sie sehen, wie die Kunst von kleinem Anfang zum höchsten
Gipfel stieg, und von so erhabner Stufe zum tiefsten Abgrund fiel, und darin
das Wesen der Kunst erkennen, die gleich dem menschlichen Körper geboren
wird, wächst, altert und stirbt, so vermögen sie leichter dem Fortschreiten
ihrer Wiedergeburt bis zu der Höhe zu folgen, welche sie in unseren Tagen
erreicht hat." Modelle von Evolution und Fortschritt im visuellen Zusammenhang
lassen sich auch in den Schriften von Denkern wie Winckelmann, Warburg,
Bergson, Bölsche, Eisenstein (aber auch Rosenberg), Luhmann sowie vor
allem Vertretern der jüngeren durch den Computer ausgelösten Revolution um
das Bild nachweisen. Denkfiguren von Komplexität, Illusion, Animation besitzen
einen nicht zu unterschätzenden historischen Subtext, der nicht selten die
zeitgenössische Verbindung von Kunst und Wissenschaften repräsentierte.
Mithin stellt sich die Frage, inwieweit Wissenschaftler aus der Robotik- und
A-Life-Fraktion unbewusst mit historisch konstanten Vorstellungsmustern
operieren, deren Verwendungsgeschichte Rückschlüsse auf die
gegenwärtige Debatte zuließe. Es gilt jedoch, nicht etwa eine wie immer
geartete Longue Durée zu postulieren, sondern gezielt die sich
herauskristallisierenden Transformationen und Brüche herauszufiltern.

Wie Ray, so schlagen auch Sommerer und Mignonneau eine internetbasierte
Umgebung vor, die einen interaktiven und partizipatorischen Zugriff auf das
Netz erlaubt, um der Theorie komplexer Systeme zur Entstehung von Leben
von Steward Kauffman und Charles Langton ein gigantisches Testfeld zu
eröffnen. Auf der Suche nach Komplexitätsschüben, die sich auch auf
Intelligenz beziehen können, soll Kunst wiederum zu einem Testgebiet
wissenschaftlicher Theorie werden und zugleich zu ihrer Utopie beitragen.
Ray prognostiziert bemerkenswerterweise auch das Entstehen einer
künstlichen Maschinenintelligenz im Internet, wobei er diesem künstlichen
Leben ganz andere Erkennungsmerkmale zuschreiben möchte, als etwa Alan
Turing dies in seinem berühmten Test von 1950 getan hat. Jenes Wesen, so
Ray, könnte sich in Millisekunden an jeden Ort des Planeten bewegen,
physikalisch und autonom, der Datenfluss wäre dieser Spezies eine
unmittelbar sensorische Erfahrung. Im Vokabular der Kunst gesprochen, sucht
die A-Life-Forschung mithin, die Grenzen zwischen den Gattungen und die
Scheidung von Kunst und Leben diesmal in den ubiquitären Netzen
aufzulösen. Lediglich den digitalen, nicht materiellen Umweltbedingungen - sei
es geschuldet, dass wir uns keine Vorstellung vom "Empfinden" dieser
Existenz machen könnten.

Diese neueste Vision vom künstlichen Leben fügt sich ganz wie die
Vorstellungen von Evolution und Fortschritt in eine Ideengeschichte
einschlägiger Tradition. Von der jüdischen Metapher des Golem, jener
Warnung vor Bilderglauben und Selbstvergottung, über den Pygmalionmythos
streift diese Geschichtslinie das pneumatische Körpermodell des Mediziners
Galen, Descartes Automate Ma Fille Francine, die mechanische Ente des
Robert des Vaucanson, Shellys Frankenstein und Fritz Langs
Maschinenmensch bis zum unübersehbaren Sammelsurium von
Roboterfantasien der letzten Dekaden. Eine Geschichte, die, wenngleich bis
heute niemand weiß, wie Bewusstsein funktioniert - vorerst im Mythos
mündet, nunmehr im Rechner und den Netzen Artificial Life und künstliche
Intelligenz hervorzubringen. Das projektierte Unternehmen künstlichen Lebens
bleibt daher, so animiert und illusionär es auch erscheinen mag, eine
menschliche Projektion auf menschengeschaffene Technik im Wandel. Es
bleibt ein symbolischer Raum, der zunächst etwas über das erreichte Niveau
der Technik, die Spiegelung des Konzeptes vom Menschen im Technischen
und in der neuen Deutungsmacht der Biowissenschaften auszusagen scheint.

Biologie ist die Leitwissenschaft des beginnenden 21. Jahrhundert und die
Gentechnik, die Methode der Evolution, mit welcher der Mensch - Produkt der
Natur - sich selbst neu erfindet. Was die Kunst bislang in der Sphäre der Bilder
möglich macht, soll - es mag kaum überraschen - auch auf der Ebene des
Faktischen in das Feld kunsttechnischer Entwicklung gespiegelt werden.
Unmittelbar, so die Rhetorik, stehen wir vor der Erweiterung des
bildlich-digitalen Entwurfs auf reale Körper. Noch kaum absehbare
Konsequenzen werden implantierte digitale Prothesen und insbesondere die
Gentechnik zeitigen. Nicht nur Forscher fahnden heute weltweit nach dem
Erbgut ausgestorbener Arten, um in einer zweiten Schöpfung aus winzigen
Partikeln alter DNS Beutelwölfe, Mammute oder ausgestorbene Riesendodos
zu klonen, auch Künstler bewegen sich auf diesem Terrain: Eduardo Kac,
brasilianischer Medienkünstler und international renommierter Theoretiker,
verfolgt mit seinem Konzept der Transgenic Art einen künstlerischen
Reflexions- und Projektionsraum der biotechnischen Entwicklung. Transgenic
Art behauptet nicht - wie harte "A-Lifer" dies tun - das Leben von Bildern.
Transgene Kunst will durch Transplantation bzw. Implantation von DNA
genetische Werke erschaffen, das Leben selbst transformieren. So
implantierte Kac mit Unterstützung des französischen Instituts für
Landwirtschaft 1999 einem Kaninchen das "Green Fluorecent Protein",
wodurch das Kaninchen unter ultraviolettem Licht intensiv grün zu leuchten
begann. Kacs Kreation "Alba" bezeichnet mithin einen Reimport aus der
Wissenschaft in die Kunst, in den Denkraum, den Kunst bietet, um die
Möglichkeiten und Konsequenzen biowissenschaftlicher Forschung zu
bedenken. Ist A-Life zunächst Herrschaft über Bilder und damit vielleicht auch
über das Bewusstsein der Betrachter, so bezeichnet Transgenic Art den
Willen zur puren Konsequenz, zur Herrschaft über das Leben. Kac propagiert
den transgenen Organismus als Original, Materie, automatische Skulptur
gewordenes Elaborat jener sich ehedem verflüchtigenden digitalen
Künstlervisionen, als Rettungsweg aus dem Artensterben. So wird der Körper
aus seiner passiven Feststellung entlassen, wird als potenziell gen- und
ingenieurtechnisch transformierbar begriffen und in einer imaginären
Grenzüberschreitung zwischen Fakt und Fiktion zunehmend umgestaltet.
Immer weniger erscheint der Körper als Ort des Natürlichen, Authentischen,
Eigentlichen, zu dem ihn bürgerliches Denken im 18. Jahrhundert stilisierte;
vielmehr wird er neben seiner physikalischen Beschaffenheit auch als
Konstrukt erkennbar, als Projektionsfläche historisch wechselnder
Einschreibungen, die zwischen den Polen Natur und Artefakt changieren. In
ihrer Vision eines vom Künstler geschaffenen Organismus widersetzt sich
Transgenic Art konzeptionell der Mechanik einer unberechenbaren Evolution im
Dienst von Komplexität. Und so sucht Kac, einem modernen Dadaisten gleich,
die Triebkräfte der Verbindung von Wissenschaft und Kunst, die gegenwärtig
die Auflösung der Arten, zuletzt auch unserer Spezies im Programm führen,
zu ironisieren und damit ein wesentliches Moment von Kunst
zurückzugewinnen - kritische Distanz, die den Denkraum sowohl für die Kunst
als auch für die Wissenschaft erneuert.


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