Der Freund, N. 4, Sept. 2005, Hamburg, pp. 80-88.



GEGEN DEN GRAVITROPISMUS, BRUDER, HOCHAUF, ZUR SONNE, ZUR FREIHEIT

von EDUARDO KAC

“GRAVITROPISMUS” BEDEUTET WACHSTUM in Richtung der Schwerkraft.1 Ich wende den Begriff Gravitropismus über den biologischen Kontext hinaus auf die Kunst an, um zu zeigen, von welcher fundamentalen Bedeutung die Schwerkraft für alle Formen und Ereignisse ist, die wir auf der Erde zu erzeugen imstande sind. Formen und Ereignisse, die in der Schwerelosigkeit entstehen, haben im gleichen Umfeld vielleicht eine radikal andere Wirkung. Als ich mich 1987 zum ersten Mal mit gravitropen Formen und Ereignissen befaßte, war ich gerade dabei, die Theorie einer neuen Dichtersprache zu entwickeln, die aus Licht entsteht: veränderliche linguistische Phänomene, befreit von allen materiellen Schranken und der Schwerkraft, die frei im Raum schweben. Damals schrieb ich: “Beim Betrachten der masselosen optischen Körper, konzentrierte Leuchtvibrationen, die in der Luft schweben, wird ,Gravitropismus‘ (von Schwerkraft konditionierte Formen) durch ,Antigravitropismus‘ (die Schöpfung neuer, nicht von Schwerkraft konditionierter Formen) ersetzt, das Denken wird vom Klischee der physikalischen Welt befreit und die Phantasie herausgefordert.“2 Der Begriff “Antigravitropismus“ drückt die Umkehrung oder Aufhebung der Schwerkraft als positive Eigenschaft aus.

Die Geste der Aufhebung der Schwerkraft in der Kunst führt zurück zu den erfinderischen Bildhauern des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, zum Beispiel Calder und Moholy-Nagy. Während Calder mit seinen “Mobiles” das Fundament mehrerer massiver Körper auf einen einzigen schwebenden Punkt reduziert, experimentiert Moholy-Nagy direct mit dem Schweben, ganz ohne greifbare Tragevorrichtungen. In seinem wichtigen Buch “Vision in Motion“, das 1947 kurz nach seinem Tod veröffentlicht wurde, erscheint Moholy-Nagy mit einem auf Druckluft schwebenden Meißel. Das Foto ist verblüffend: Zu sehen ist Moholy-Nagy im Profil und vor ihm in der Luft schwebend, ohne sichtbare Befestigung, der Meißel. In früheren Büchern, in denen Moholy-Nagy seine Ideen zur Evolution der bildhauerischen Form darlegt, schlägt er virtuelle Körper als neue Möglichkeit der Bildhauerei vor – Körper, die durch die beschleunigte Bewegung eines Objekts optisch erzeugt werden. Eine knapp einminütige Sequenz seines Films “Design Workshop” (1946) zeigt bunte Tischtennisbälle, die in einem Luftstrom schweben. Als radikal interdisziplinärer Künstler ging also schon Moholy-Nagy davon aus, daß im Design der Zukunft die Aufhebung der Schwerkraft ein nützliches Werkzeug wäre. Seine visionären Ideen wurden allerdings erst seit den 1960er Jahren verwirklicht. Hans Haackes Skulptur “Sphere in Oblique Air-Jet“ (1967) zeigt dem Betrachter, was der Titel verspricht: eine Kugel, die stabil im Raum schwebt. Haacke nutzt für seine Skulptur den Bernoulli-Effekt, nämlich daß der Druck einer Luftströmung (oder lüssigkeitsströmung) geringer ist als der Druck unbewegter Luft (oder Flüssigkeit). In der Praxis heißt das, bewegte Luft kann aerodynamischen Auftrieb erzeugen.

Auch wenn der ungarische Konstruktivist Moholy-Nagy diesen Gedanken in seinen eigenen Werken nicht weiter verfolgt, rücken das Schweben und die Eroberung des Weltraums in das Interesse der Künstler der 1950er Jahre. Lucio Fontanas Spazialismo zum Beispiel bekennt sich direkt zum Weltraum. 1951 stellt er fest: “Die wahre Eroberung des Raums ist das Abheben vom Erdboden.“ Aaron Siskinds Fotoserie “Terrors and Pleasures of Levitation” aus den fünfziger Jahren zeigt dem Betrachter verzerrte fliegende menschliche Körper. Die faszinierenden Bilder, die an den alten mythischen Menschheitstraum vom Fliegen gemahnen, könnten direkt aus einem Trainingsprogramm für Astronauten stammen. In beiden Fällen steht die Metapher des Raums und des Fliegens im Vordergrund. Der griechische kinetische Künstler Takis hingegen läßt mit Hilfe von Magnetismus Formen frei im Raum schweben. Bereits 1938 hatte Gyorgy Kepes eine Serie von Fotos und Fotogrammen geschaffen, in denen er mit den visuellen Eigenschaften von Magneten und Eisenspänen experimentiert, doch es war Takis, der 1959 mit seiner eleganten “Télésculpture“ die Ästhetik der magnetischen Levitation in die Kunst einführte. Die Skulptur besteht aus drei kleinen Metallkegeln, die mit dünnen Drähten an drei Nägeln befestigt sind. Die drei Kegel schweben vor einem Magnet über einer unregelmäßigen Ebene. Das Werk entstammt einer komplexen Serie von Arbeiten, in der Takis wie ein Zauberer die Ausdrucksstärke unsichtbarer Kräfte erforscht.

Als im September 1959 mit dem sowjetischen Raumschiff Lunik 2 die erste Sonde auf dem Mond aufschlägt, wird die Übersiedlung des Menschen in den Raum plötzlich greifbar. Fasziniert von den Konsequenzen, die sich daraus ergeben, entwirft Takis 1960 für die Galerie Iris Clert in Paris ein Happening mit dem Titel “L’Impossible, Un Homme Dans L’Espace“ (Das Unmögliche, ein Mensch im Raum). Dabei wird Sinclair Belles in einem von Takis entworfenen “Space Suit”, der an einer Metallstange im Boden befestigt ist, quer durch die Galerie in ein Sicherheitsnetz katapultiert. Takis’ Inszenierung verweist auf das Unbekannte: Die Logik und Biologik, die die menschliche Existenz auf der Erde bestimmen, gelten für das Leben im All nicht. Eine andere Antwort auf den visuellen und intellektuellen Reiz der ersten menschlichen Schritte in den Weltraum ist Yves Kleins “Sprung ins Leere“ (1960). Mit der Fotomontage spielt Klein auf den neuen Zustand des Körpers in einer ziemlich konkreten Beziehung zum Kosmos an (womit er wiederum an Siskinds Serie erinnert).

Mit den Möglichkeiten des Magnetismus beschäftigen sich in den 1960er Jahren weitere Künstler. Der venezolanische Bildhauer Alberto Collie, der in Harvard studierte, entwickelt zum Beispiel elektromagnetische Levitatoren für neuartige Skulpturen, die er “Spatial Absolutes“ nennt. Er läßt Titanscheiben frei (ganz ohne Halterung) in einem elektromagnetischen Feld schweben. Bewegt sich eine Scheibe, verstärkt ein Rückkoppelungssystem das Kraftfeld und stabilisiert damit die Scheibe wieder in ihrem  ursprünglichen Ruhezustand.

Eine ganz eigene Technik, (flüchtige) Formen im Raum schweben zu lassen, ist das Himmelsschreiben. Ein Flugzeug schreibt oder malt in etwa 10.000 Fuß Höhe mit Rauch oder anderen gasförmigen Substanzen Objekte an den Himmel. Ende der Sechziger und in den frühen Siebzigern begannen

Künstler wie James Turrel, Sam Francis und Marinus Boezem das Himmelsschreiben als Mittel zu verwenden. Der Dichter David Antin schrieb 1987 und 1988 Himmelsgedichte über Los Angeles und San Diego. Diese Künstler erzeugen ihre vergänglichen Formen in der Troposphäre, der niedrigsten Schicht der Atmosphäre.

Der brasilianische Künstler Paulo Bruscky forderte 1974, durch die Schaffung von künstlichen Polarlichtern das Konzept der Himmelskunst über ein wenig Luftakrobatik und das Erzeugen vergänglicher Formen hinaus in das Zeitalter der Raumfahrt zu versetzen. Er schlug vor, dafür mit Hilfe von Flugzeugen ganze Wolken einzufärben. Bruscky schaltete Anzeigen in Zeitungen, um sein Projekt zu dokumentieren, die Öffentlichkeit zu informieren und Sponsoren aufzurufen. Die Anzeigen erschienen in den brasilianischen Zeitungen Diário de Pernaumbuco in Recife (22. September 1974) und Jornal do Brasil in Rio de Janeiro (29. Dezember 1976). Während eines Guggenheim-Stipendiums in New York annoncierte er auch im Village Voice (25. Mai 1982). Künstliche Polarlichter wurden dann 1992 tatsächlich geschaffen, allerdings nicht von Bruscky, sondern von der NASA im Zuge von Umweltuntersuchungen. Etwa sechzig künstliche Mini-Polarlichter entstanden mit Hilfe von Elektronengeschützen, die von der Raumfähre Atlantis Feuerstrahlen in die Atmosphäre schossen.

Der künstlerische Ansatz des Himmelsschreibens führt die Luft-Kunststücke der futuristischen Manifeste fort. Neben den bekannten Schriften des Futurismus-Gründers FilippoTommaso Marinetti ist das Manifest des “Futuristischen Luftfahrttheaters“ von Fedele Azari im Jahr 1919 zu erwähnen, worin er schreibt: “1918 HABE ICH SELBST ZAHLREICHE AUSDRUCKSSTARKE FLÜGE UND BEISPIELE DES ELEMENTAREN LUFTFAHRTTHEATERS ÜBER DEM LAGER VON BUSTO ARSIZIO VOLLFÜHRT. Ich habe beobachtet, wie leicht es den Zuschauern fällt, allen Nuancen des Gemütszustands des Fliegers zu folgen, da eine vollkommene Identifikation zwischen dem Piloten und seinem Flugzeug stattfindet: Das Flugzeug wird zur Verlängerung seines Körpers, seine Knochen, Sehnen, Muskeln und Nerven gehen in Holme und Drähte über.“

Ein weiterer, wenn auch weniger bekannter Vorgänger ist das “Dimensionistische Manifest“, veröffentlicht 1936 von dem ungarischen Dichter Károly (alias Charlie) Sirato und unterschrieben unter anderem von Arp, Delaunay, Duchamp, Kandinsky, Moholy-Nagy und Picabia. Das “Dimensionistische Manifest“ lag als loses Blatt der Pariser Zeitschrift Revue No. 1 bei. Seine ehrgeizigste Forderung ist die vierdimensionale Skulptur: “Ensuite doit venir la creation d’un art absolument nouveau: l’art cosmique (Vaporisation de la sculpture, théâtre Syno-Sens – dénominations provisoires). La conquête totale de l’art de l’espace à quatre dimensions (un ‚Vacuum Artis‘ jusqu’ici). La matière rigide est abolie et remplacée par des matériaux gazéfiés. L’homme au lieu de regarder les objets d’art, devient lui-même le centre et le sujet de la création, et la création consiste en des effets sensoriels dirigés dans un espace cosmique fermé.“

Diese zukunftsweisende Vision wurde nicht nur mit der Verwendung von Dampf und Gas als neuen Kunstmaterialien umgesetzt (z.B. Pierre Huyghes “L’Expédition Scintillante, Act II: Untitled [light show]“, 2002), sondern auch mit der fortgesetzten Praxis des Himmelsschreibens als Medium der zeitgenössischen Kunst. So faßt die Ausstellung “En el Cielo“ für die Biennale in Venedig 2001 die Himmelsschrift-Projekte mehrerer Künstler zusammen, organisiert von TRANS, einer New Yorker Einrichtung, die experimentelle Kunst unterstützt. Doch so reizvoll das Himmelsschreiben für die Künstler sein mag, es ist eine untergehende Kunstform, die in unserer kommerziellen Welt schon jetzt weitgehend von einer schnelleren Technik der Informationsübermittlung am Himmel verdrängt wird, dem Skytyping.

Hier produzieren mehrere Flugzeuge in Formation über ein  computergesteuertes Radiosignal synchronisierte Raumwölkchen, die Buchstaben formen.

Brusckys Forderung sprengt den Rahmen der Land Art und Earthworks seiner Zeit, denn seine künstlichen Polarlichter würden Millionen von Menschen gleichzeitig erreichen, die, um das Werk zu sehen, einfach nur in den Himmel blicken müßten. Kunst, die mit Magnetismus oder Elektromagnetismus arbeitet, findet dagegen in ungleich kleinerem Umfang statt. Takis’ Werke strahlen durch die Verwendung einfacher Materialien wie Eisen oder Stahl eine rohe Kraft aus. Der amerikanische Künstler Thomas Shannon setzt mit seinen Schwebe-Projekten auf einen anderen Effekt. Seit den 1980er Jahren arbeitet Shannon an einer Skulpturenserie aus Materialien wie Bronze, Gold und Marmor, dazu bemaltes Holz, wobei die Quelle der magnetischen Kraft unsichtbar bleibt. Statt die Spannung zur Schau zu stellen, die entsteht, wenn gegenläufige Kräfte am Werk sind, sucht Shannon in seinen Kunstwerken nach einer Art leisem Gleichgewicht, das auf der visuellen Harmonie zweier Grundkomponenten beruht: der Basis und dem schwebenden Element. Shannon, der aus den visuellen Reizen der Natur und der Wissenschaft schöpft, überträgt das Schweben in den Bereich einer reduzierten Gliederung bildhauerischer Formen, wo die Paarbildung der Objekte die magnetische Erfahrung strukturiert.

Viele Entwicklungen des zwanzigsten Jahrhunderts führen zu einer radikalen Reduktion der physischen Materialien bei der Herstellung bildhauerischer Körper und ihrer Aufstellung im Raum.

Von Gabos Konstruktionen (1919/20) bis zu Fontanas Perforationen, von Moholy-Nagys kinetischen Arbeiten zu Calders Mobiles, überall läßt sich erkennen, wie die Künstler die moderne Skulptur von der begrenzten statischen Form befreien wollen, die durch die zweidimensionale Oberfläche des Fundaments vorgegeben wird. Takis und Shannon – und auch der brasilianische Bildhauer Mario Ramiro, der 1986 den selbstregulierenden Levitator mit den Titel “G0“ schuf – setzen die Suche fort, die Skulptur vom Gravitropismus zu erlösen.

In Ramiros “Gravidade Zero“ (Schwerelosigkeit) hält ein von einem Fotosensor gesteuerter Elektromagnet eine freischwebende metallische Form im Raum im Gleichgewicht. Das Objekt ist damit in einem wahrhaft dreidimensionalen kinetischen Raum: befreit von einer zweidimensionalen Basis oder jeglicher anderen Befestigung.

Der schwebende Körper zeigt umgekehrte Relationen: Das dickere Ende befindet sich im oberen Bereich. Unten, wo traditionell der Sockel war, bedarf es keiner Stütze mehr, um den Körper zu tragen. Unausweichlich kommen wir also zu dem Schluß, daß die Schwerelosigkeit das nächste Neuland ist, das es zu besiedeln gilt.

Seit 1969, als mit Apollo 12 das “Mondmuseum“ an Bord der Saturn-V-Rakete zum Mond gebracht wurde – ein Keramikchip mit Zeichnungen von Künstlern wie Robert Rauschenberg und Andy Warhol –, reisen Kunstwerke an Bord von Raumschiffen ins All. Der nächste Schritt war die Dauerinstallation einer Skulptur des Künstlers Paul van Hoeydonck

(Antwerpen, geboren 1925) auf der Mondoberfläche, die im Jahr 1971 ebenfalls mit einer Saturn-V-Rakete zum Mond flog. Das Kunstwerk “Fallen Astronaut“ (Aluminium, 8,5 cm lang) wurde von den amerikanischen Astronauten Dave Scott und Jim Irwin (Apollo 15) am Landeplatz im Hadley-Apennin-Gebiet aufgestellt.

Daneben wurde eine Gedenktafel für alle Astronauten und Kosmonauten, die bei der Raumfahrt ums Leben kamen, in den Mondboden eingelassen. Im Jahr 1989 ließ Lowry Burgess Objekte von einer Shuttle mitnehmen, die zu seinem Konzeptkunstwerk “Boundless Cubic Lunar Aperture“ gehörten.

Diese Arbeiten sind Meilensteine auf dem Weg zu einer Kunst, die den Weltraum materiell miteinbezieht, doch sie sind weder im Weltraum entstanden, noch dazu konzipiert, die neuen Möglichkeiten der echten Schwerelosigkeit auszuloten. Diesen Schritt gehen zwei andere Skulpturen: “S.P.A.C.E.“ des amerikanischen Künstlers Joseph McShane, das 1984 im Weltraum entstand, und “The Cosmic Dancer“ (1993) des in der Schweiz lebenden Amerikaners Arthur Woods.

McShanes Arbeit wurde am 5. Oktober 1984 mit der amerikanischen Raumfähre Challenger in den Weltraum gebracht. Dort wurde sie in der Schwerelosigkeit mit dem Vakuum des Weltraums erschaffen und kam in ihrer veränderten Form zur Erde zurück. Es handelt sich um eine Kugel mit einem Ventil, die mit der darin enthaltenen Erdatmosphäre in der Umlaufbahn geöffnet wird. Das Vakuum des Weltraums leert die Kugel, dann schließt sich das Ventil. Jetzt ist das Vakuum des Alls in der Kugel enthalten. Nicht das gläserne Objekt ist für McShane das Kunstwerk, sondern das Einfangen des Weltraums, das Wunder, die Leere des Raums auf die Erde und zum Betrachter zu bringen. Wenn wir über die Rezeption der Weltraumkunst nachdenken, müssen wir uns auch mit ihrer Wahrnehmung im Weltraum befassen.

Die ersten Betrachter von Woods’ “Cosmic Dancer“ erlebten selbst die “Terrors and Pleasures“ des Schwebens unter den Bedingungen der Schwerelosigkeit. Der “Cosmic Dancer“, eine spitzeckige Form, die am 22. Mai 1993 mit zur Raumstation Mir flog, unterstreicht die kulturelle Dimension des Weltraums, denn es geht um Kunsterfahrung innerhalb einer menschlichen Umgebung jenseits der Erde. Das Video, das das Projekt dokumentiert, zeigt die beiden russischen Kosmonauten Alexander Polischuk und Gennadi Mannakow (schwebend, drehend, fliegend) mit der Skulptur im Innern der Mir, wo die Skulptur verblieb. Am 23. März 2002 stürzte sie mit den brennenden Überresten der Raumstation Mir in den Südpazifik. Die Performance der Kosmonauten ist Teil von Arthur Woods’ Projekt. Beim Betrachten der Video-Dokumentation hat man das Gefühl, daß die Kosmonauten stellvertretend für alle Betrachter sind, das heißt, für all jene, die in Zukunft die Möglichkeit haben werden, den Weltraum nicht nur als Forschungslabor, sondern als soziales  und kulturelles Milieu zu erfahren.

Ein Körper, der sich in einer Umgebung ohne Schwerkraft verhält, stellt an sich schon einen ästhetischen Schatz dar. Auf den Körper konzentriert sich die französische Choreographin Kitsou Dubois seit über einem Jahrzehnt. Seit 1991 nimmt sie regelmäßig an Parabelflügen teil und erkundet die gestischen, kinaesthetischen und propriozeptiven Möglichkeiten des schwerelosen Tanzes. Diese Flüge unternimmt sie allein oder zusammen mit anderen Tänzern. Dubois ist einmalig in ihrer unermüdlichen Erforschung der Schwerelosigkeit. Abgesehen davon, daß sie stets auf der Suche nach neuen Wegen zur Schwerelosigkeit ist, hat sie über das Thema promoviert, ausführliche Schriften veröffentlicht und ihre Erfahrungen in Theaterarbeiten und Installationen einfließen lassen. Als Nebenprodukt ihrer choreographischen Arbeit hat Dubois außerdem Trainingsmethoden für Astronauten entwickelt, die auf den neuesten Protokollen ihrer Schwerelosigkeitstänze gründen.

Um das Spektrum der Raumkünste zu vervollständigen, fehlt noch der Blick auf das Theater. 1999 inszenierte der slowenische Regisseur Dragan Zivadinov sein “Kosmokinetisches Kabinett Noordung“ am Himmel hoch über Moskau, an Bord eines Trainingsluftfahrzeugs für Kosmonauten. Die Besatzung bestand aus sechs Schauspielern und einem achtköpfigen Publikum. Die Serie von elf Parabelflügen mit Schwerkraftsveränderungen, die von der doppelten Schwerkraft über die normale bis zu  dreißigsekündigen Mikrogravitätsphasen reichen, eignet sich kaum für ein längeres dramatisches Stück. Doch das ist für Regisseur Zivadinov kein Problem, dessen Vision eines abstrakten Theaters sehr gut zur Schwerelosigkeitserfahrung paßt. Zivadinov brachte ein rotes Bühnenbild im Rückteil des Flugzeugs an und Sitze für die acht Zuschauer an beiden Wänden. Die Schauspieler, die er in bunte Kostüme steckte, schwebten von der Bühne in den Raum, dann wurden sie von der Schwerkraft wieder zu Boden gedrückt, flogen wieder in die Luft, auf und ab, bis das Flugzeug seine elf Parabeln beendet hatte. Nach acht Parabeln erlaubte Zivadinov den Zuschauern, ihre Sitze zu verlassen und ebenfalls den euphorischen Zustand des körperlichen Schwebens zu erfahren, eine einmalige Form der Empathie zwischen Publikum und Schauspielern und zweifellos eine neue, radikale Version des alten dramaturgischen Kunstgriffs, den Aristoteles Katharsis nennt.

Während Zivadinov das Flugzeug als Bühne verwendet und Woods die Raumstation als Ergänzung zur vollen Ausschöpfung des antigravitropen Potentials seiner Skulptur nutzt, entwickelt der Medienkünstler, Architekt und Designer Doug Michaels 1987 die Idee eines ziemlich einzigartigen Kunstwerks plus Raumstation plus “alternative Architektur“. Als Mitgründer der Ant Farm Design Group (1968- 78) war Michaels der Mitschöpfer von emblematischen Arbeiten dieser Zeit wie der Cadillac Ranch (zehn Autos, mit der Nase voran in ein Weizenfeld westlich von Amarillo, Texas, gerammt, 1974) und der Performance Media Burn (Michaels rast mit einem Cadillac durch eine Pyramide brennender Fernseher, 1975). 

1986 rief der Künstler das Doug-Michaels-Studio ins Leben, um innovative Architektur- und Design-Projekte zu entwickeln. 1993 bastelte Michaels, der 2003 starb, zusammen mit seinen Kollegen an dem Konzept eines Raumschiffs für Künstler und Wissenschaftler, die sich mit der Interaktion und Kommunikation von Menschen und Delphinen beschäftigen. Das Projekt ehrt John Lilly, den Wissenschaftler, der die Vorstellung vom Bewußtsein und der Intelligenz der Delphine schon zu einer Zeit propagierte, da die Tatsache wissenschaftlich noch nicht belegt war. Ergebnis von Lillys Forschung sind Bücher wie “Man and Dolphin“ (New York, 1961), “The Mind of the Dolphin: A Nonhuman Intelligence“ (New York, 1978) und “Communication Between Man and Dolphin: The Possibilities of Talking With Another Species“ (New York, 1978, dt. “Ein Delphin lernt Englisch“). Die Zeitschrift “The Futurist“ berichtete 1978 in der Januar/ Februar-Ausgabe über Michaels’ Projekt Bluestar, einen “schwerelosen Think-tank in der Umlaufbahn“, der Menschen wie Tiere beherbergen sollte. Michaels’ Konzept sah vor, daß die Meeressäugetiere den Zentralcomputer mit ihren Ultraschall-Ausstößen programmierten.

1993, im gleichen Jahr, als Woods den “Cosmic Dancer“ losschickte, begann der chinesische Künstler Niu Bo “The Zero-Gravity Project“. Zunächst ließ er in Japan ein Flugzeug in 20.000 bis 25.000 Fuß Höhe Parabeln fliegen. Bo legte das Innere des Flugzeugs mit Reispapier aus und stellte aus verschiedenen Elementen Farben her. Er vermischte unter anderem Tusche, Aquarell- und Ölfarbe und füllte die Farben in Ballons.

Während der annähernden Schwerelosigkeit der Mikrogravitätsflüge wurden die Ballons geöffnet. Mit seinem “Raum-Atelier“ gibt Bo zu verstehen, daß genau wie bei den Impressionisten, die ihre Ateliers verließen, um die Möglichkeiten des natürlichen Lichts zu erkunden, eine ganz neue Kultur entsteht, wenn die Künstler die Oberfläche der Erde verlassen.

Die Arbeit „Daedalus“ des spanischen Perfomance-Künstlers Marcel.li Antúnez Roca besteht aus einer Serie von Mikro-Performances, die 2003 während zwei Parabelflügen an Bord einer Tupolev am Gagarin Cosmonaut Training Center im russischen Star City zustande kamen. Daedalus ist Teil eines größeren Projekts der Londoner Organisation The Arts Catalyst, die Künstlern helfen will, unter Schwerelosigkeitsbedingungen zu arbeiten. Ausgerüstet mit einem drahtlosen Sensoren-Skelett und dem Roboter Requiem aktiviert Roca durch seine unfreiwilligen Bewegungen Videos mit Hilfe von Potentiometern im System des Sensorenanzugs. Die Videos erinnern den Künstler an eine exobiologische Ikonographie, die wir von Biochemie und Mikrobiologie, von höheren transgenen Organismen und Biorobotern kennen.

Kunstwerke wie die hier angesprochenen eröffnen einen völlig neuen Bereich für spekulative Fragen nach der Zukunft der Kunst in anderen Welten jenseits der Erde. Doch solange wir selbst auf den blauen Planeten beschränkt sind, bieten sich der Kunst drei Möglichkeiten einer „Schwerelosigkeits- Sensibilität“. Zum ersten ist das Potential von Magnetismus und Elektromagnetismus in der Kunst noch lange nicht ausgeschöpft. Zweitens wird der wachsende Zugang zu Mikrogravitäts-Einrichtungen in Rußland zwangsläufig neue Märkte auch in Europa, Japan und den Vereinigten Staaten öffnen und so immer mehr Künstlern die Erfahrung der Schwerelosigkeit ermöglichen. Drittens wird mit der Entwicklung des Weltraumtourismus vielleicht eines Tages auch die echte Schwerelosigkeit jedermann zugänglich, wenn auch nicht so bald, da die Kosten dafür in absehbarer Zukunft extrem hoch bleiben werden. Der Weltraumtourismus begann am 28. April 2001, als das russische Sojus- Raumschiff mit zwei russischen Kosmonauten den amerikanischen Millionär Dennis A. Tito als zahlenden Passagier mit zu einem Stelldichein mit der Internationalen Raumstation in die Umlaufbahn nahm.

Der Elektromagnetismus bietet ein großes Potential für schwebende Skulpturen. Eine Quelle, die noch nicht angezapft wurde, ist der Diamagnetismus. Diamagnetische Materialien stoßen sowohl Nord- als auch Südpol eines Magneten ab. Viele Substanzen sind diamagnetisch, aber noch ist es schwierig, normale Objekte schweben zu lassen. Mit starken Magnetfeldern und starken diamagnetischen Materialien (zum Beispiel Neodym-Magnete oder Graphit) lassen sich jedoch stabile Bereiche für diamagnetisches Schweben erzeugen.

Für Künstler, die das Schweben über Magnetismus und Elektromagnetismus hinaus ergründen wollen, sind die neuen Techniken interessant, die derzeit in Forschungslaboren entstehen. Bei elektrostatischen Levitatoren, die Temperatur und Levitation unabhängig steuern können, muß im Gegensatz zum Elektromagnetismus das schwebende Objekt kein Leiter der elektrischen Spannung sein. Akustische Levitatoren können Flüssigkeiten durch akustische Strahlung schweben lassen oder Flüssigkeiten, die in einem Gasstrom schweben, durch akustische Kräfte stabilisieren. Mit Hilfe von Supraleitern können Objekte in flüssigem Stickstoffnebel über einem Magneten zum Schweben gebracht werden. Laser können Gasblasen in Wasser fixieren, mit Hilfe von optischem Lichtstrahlungsdruck lassen sich stabile Schwebezustände erzeugen. Atomsplitter können Atomwolken fixieren und manipulieren, die magnetisch über der Oberfläche des

Splitters schweben. Tragbare Quantenlabore lassen hoffen, daß die magnetische Kontrolle von frei schwebenden Atomwolken weiterentwickelt wird.

Dort, wo Levitation und Biologie einander berühren, beim Molekularmagnetismus, geht es letztlich um die Wirkung gewöhnlicher, wenn auch äußerst starker magnetischer Kräfte auf ganz gewöhnliche Objekte. Nach oben gerichtete Kräfte nutzen die schwache magnetische Reaktion des Objekts in ihrem Kraftfeld und können auf diese Weise Objekte zum Schweben bringen, bei denen man es normalerweise nicht für möglich gehalten hätte (zum Beispiel Plastiken), sogar lebendige Organismen (Pflanzen, Insekten, kleine Tiere – möglicherweise auch Menschen, wenn ein ausreichend starkes Feld erzeugt wird). Eine weitere Möglichkeit ist die Manipulation magnetischer Eigenschaften von Objekten in Nanometergröße, die sogar eine makroskopische Manifestation des Quantenverhaltens dieser sehr kleinen Objekte mit sich bringen könnte.

Diese Techniken sind nur ein winziger Ausschnitt dessen, was vielleicht möglich ist, wenn das Leben in der Internationalen Raumstation zur Normalität wird, wenn die Kolonisierung des Mondes nicht mehr Science-fiction, sondern wissenschaftliche Tatsache ist, und wenn die Raumfahrt endlich das erreicht, was für die Öffentlichkeit anscheinend die größte Herausforderung ist: den Menschen auf den Mars zu bringen. Die Entdeckung neuer Legierungen und Verbindungen unter Schwerelosigkeitsbedingungen und die Aussicht  auf eine interplanetare Kolonisierung legen nahe, daß die Erforschung des Weltraums weit mehr ist als nur eine Metapher in der Kunst. Der Weltraum ist eine materielle und intellektuelle Herausforderung, die endlich angenommen werden muß.

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1 - Gravitropismus ist ein Begriff aus der Botanik. Wurzeln sind positiv gravitrop, da sie mit der Schwerkraft wachsen (d.h. nach ist negativ gravitrop, da er entgegen der Schwerkraft wächst (d.h. nach oben);

2 - Kac, Eduardo. “Sintaxe, Leitura e Espaço na Holopoesia”, Ausstellung “Arte e Palavra”, Forum de Ciência e Cultura, Universidade Federal, Rio de Janeiro, 1987.


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